Interview mit Herbert Lauenroth [1] im Hinblick auf das nächste Treffen in Timosoara
Wo sehen Sie die wichtigsten Werte von Miteinander für Europa (MfE)?
Auf der Grundlage gemeinsamer christlicher Wurzeln hat sich MfE die Vision eines Europas der Solidarität, des Friedens, der Versöhnung, der Gerechtigkeit und der Geschwisterlichkeit zu eigen gemacht. MfE möchte das christliche Ethos (in Anlehnung an Joh 15,12: Dies ist mein Gebot: Liebet einander, wie ich euch geliebt habe) im Lichte einer „Ambiguitätstoleranz“ (Zygmunt Bauman) neu in seiner Dringlichkeit bezeugen: eine Kultur der Gegenseitigkeit, die die Tendenzen einer zunehmenden Polarisierung und Fragmentierung überwindet und zueinander führt. Die Einübung in eine „Kultur des Zuhörens“ eröffnet dabei vielversprechende Wege zum Dialog und damit zur Auseinandersetzung mit den medialen Pathologien einer „postfaktischen“ Zeit (wie Desinformation, Denunziation, „hate speech“, Verbreitung von „Fake News“ usw.).
Führt dies zu einer größeren Solidarität?
Ich denke ja. Denn Solidarität entsteht aus der christlichen Erfahrung, im Licht ihrer Vision einer „universellen Geschwisterlichkeit“. Sie führt uns aus unseren jeweiligen „Echokammern“ oder „Blasen“ heraus, um uns den (diskursiven) Räumen einer von Étienne Balibar so genannten „egaliberté“ oder „Gleichfreiheit“ zu öffnen. Biblisch gewendet: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“ (Gal 3,28) „Christ“ zu sein bedeutet daher, „Bürger“, Teil der polis, des Politischen zu sein. Die Demokratie als säkulares Projekt bedarf bekanntlich ganz bestimmter Voraussetzungen, namentlich den Bezug auf das Transzendente, auf die „religiöse“ Sphäre (In diesem Zusammenhang mag es genügen, an die aufschlussreiche Begegnung zwischen Kardinal Joseph Ratzinger und dem renommierten deutschen Vertreter eines „postmetaphysischen“ Denkens, Jürgen Habermas, im Jahr 2004 zu erinnern).
Und wie lassen sich diese Werte verwirklichen?
Dazu hat es in der Vergangenheit viele Gelegenheiten gegeben. Erst vor kurzem hat MfE am Europäischen Ökumenischen Jugendfestival in Timisoara/Rumänien teilgenommen, um den Dialog, die Begegnung zwischen jungen Menschen verschiedener Kirchen zu fördern.
Am 5. Mai 2023 boten wir – Pater Hans-Martin Samietz (Schönstatt) und ich, unterstützt von einigen FreundInnen (aus der Fokolar-Bewegung) – einen Workshop für rund 100 junge Katholiken, Orthodoxe und Angehörige anderer christlicher Kirchen an. Er stand unter dem biblischen Leitwort ‘Suchet der Stadt Bestes’ (Jer 29,7) und erörterte konkrete Formen eines Engagements junger ChristInnen in und für die Stadt. Grundlage der intensiven Gespräche war dabei ein – in seinem prophetischen Pragmatismus beispielgebender – Text von Chiara Lubich: ‘Eine Stadt genügt nicht’. In verschiedenen thematischen Untergruppen wurden einzelne Zugänge zum Thema in den Blick genommen: konkrete Übungen ebenso zu einer „Kunst des Zuhörens“, ohne die jeder Dialog wirkungslos bleibt, wie zu einer alltagstauglichen Spiritualität kleiner Lebens-Gemeinschaften, oder ein sehr gut besuchtes Drehbuchseminar zur Frage „Wie sehe ich meine Stadt?“. Die Teilnehmer (im Alter von 16 bis 28 Jahren) würdigten dabei besonders die Vielfalt der Zugänge und den immer klar erkennbaren Praxisbezug, nicht nur in diakonischer, missionarischer oder liturgischer, sondern eben auch in kreativ-künstlerischer Hinsicht.
Vom 16. bis 18. November 2023 wird das jährliche Treffen des Trägerkreises von Miteinander für Europa ebenfalls in Timisoara stattfinden. Warum?
2023 tragen Elefsina (Griechenland), Veszprém (Ungarn) und Timişoara (Rumänien) den Titel „Kulturhauptstadt Europas“. Aus diesem Anlass hat nun der ökumenisch sehr umtriebige katholische Bischof von Timişoara, Pál József Csaba die jährliche Zusammenkunft des Trägerkreises von Miteinander für Europa in die rumänisch-ungarische Grenzstadt eingeladen. Das Leitungskomitee von MfE hat diese Einladung gerne angenommen.
Das jährliche Treffen des Trägerkreises von MfE hat ja immer schon an verschiedenen Orten in Ost- bzw. Westeuropa stattgefunden (u.a. in Prag, Porto und jetzt eben in Timisoara) mit dem Ziel, neue Räume der Begegnung und damit Voraussetzungen für einen differenzierten und fruchtbaren Dialog zu schaffen. Dabei ging und geht es immer nicht um organisatorische Vereinbarungen; im Fokus stehen jene inneren Haltungen, die das Evangelium nahelegt; Haltungen, die auch in den verschiedenen säkularen Lebenswelten wirksam werden. Wie etwa jene Bereitschaft, das Wort und die Wahrheit des anderen in uns aufzunehmen, wieder hör- und lernbereit zu werden, um so in der Begegnung mit dem Fremden – und im Bewusstsein der eigenen Bedürftigkeit – die eigene geistig-geistliche Sendung neu zu empfangen.
Was nun das Treffen des Trägerkreises im November angeht, möchten wir wieder Workshops anregen, die – gerade in diesen kriegerischen Zeiten – das eminent europäische Thema ‘Suchet der Stadt Bestes´, also den „Frieden“ (den Martin Buber und Franz Rosenzweig als „shalôm“ übersetzen) erneut aufgreifen, weiterführen und somit noch tiefer bezeugen.
Beatriz Lauenroth
[1] Herbert Lauenroth, Historiker, ist Mitglied des Leitungskomitees von Miteinander für Europa und von Anfang an begleitet er die Entwicklung des internationalen Netzwerkes.
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