Beitrag von Pavel Fischer, Senator, Tschechische Republik, zum Trägerkreis von Miteinander für Europa, Prag 16.11.2018 – „DIE DREI HERAUSFORDERUNGEN“
Liebe Freunde,
Sie sind nach Prag gekommen, um miteinander an dem Thema zu arbeiten: Wie lebt man Miteinander für Europa und wie setzt man sich dafür ein? In was für ein Land sind Sie gekommen? Und wie ist der Zustand Europas heute, hundert Jahre nach dem Ersten Weltkrieg? Sie sind nach Tschechien gekommen, in ein Land, das sich vor hundert Jahren zur Republik erklärte.
Bei den diesjährigen Feierlichkeiten zum hundertjährigen Jubiläum war ich fasziniert von den Ideen, die der Präsident des Verfassungsgerichtshofs in seiner Ansprache geäußert hat. Er leitet diese Institution, deren Aufgabe es ist, sicherzustellen, dass die grundlegendsten Regeln in diesem Land eingehalten werden. Präsident Pavel Rychetský hat eine Diagnose des Zustands unserer heutigen Gesellschaft versucht. Lassen Sie mich seinen Grundgedanken mit eigenen Worten wiedergeben.
Seiner Meinung nach hat die Globalisierung das Gefühl der Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit unter den Menschen verstärkt. Die Menschen haben das Gefühl, dass sie sich in der globalen Welt verlieren. Die Konturen ihrer Identität verwischen sich, und sie versinken in Sorgen und Angst. Ja, die Angst ist zum Nährboden für diejenigen geworden, die ein Feindbild schaffen. Der Feind kann der reichere Nachbar sein, der Einwanderer oder jemand mit einer anderen Hautfarbe. In diesem Land wird manchmal die Europäische Union selbst als der Übeltäter identifiziert.
In ihrer Verzweiflung suchen jetzt die Menschen nach Veränderung und noch besser nach einer Art Messias, weil die traditionellen politischen Parteien sie nicht mehr wirksam vertreten. Ist es überhaupt noch möglich, eine so vergiftete Entwicklung zu stoppen? Und wie kann man ein verdrehtes Wertesystem wiederherstellen?
Der Präsident des Verfassungsgerichtshofs sieht Hoffnung in einem größeren Maß an Emanzipation der Zivilgesellschaft, die ihr Selbstvertrauen wiedererweckt und das Prinzips der bürgerlichen Souveränität wiederherstellt: Bürger, die für sich selbst einstehen; denn politische Vertreter sind dafür da, dem Allgemeinwohl der Nation zu dienen, sonst sollten sie nicht an der Macht sein.
Lassen Sie uns noch einmal auf die Schlüsselbegriffe schauen, die er in seiner Rede verwendet hat: Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit, Identität, Angst, Feind, Allgemeinwohl, Selbstvertrauen, souveräner Bürger.
Wenn wir die besten Aspekte europäischen Denkens anschauen, die auf der Weisheit jüdischer Gelehrter, christlicher Mystiker und rationaler Denker beruhen, können wir eine spirituelle Dimension finden, die jeden dieser Begriffe in ein anderes Licht stellen könnte. So gesehen, hat die Diagnose der heutigen Gesellschaft einen großen Informationswert. Aber ich glaube, dass wir alle diese Phänomene auch in einem hoffnungsvollen Licht sehen können. Und dass wir uns bemühen können, selbst etwas zu tun. Wo also sollen wir anfangen? Was sollten wir zuerst tun, und andererseits was sollte so bleiben, wie es ist?
Lassen Sie uns jetzt einen kurzen Blick auf die drei Herausforderungen werfen, vor denen Europa heute steht.
Die erste Herausforderung: Emotionen
Die Menschen sind so angelegt, dass sie Emotionen empfinden. Und nicht nur die eigenen Emotionen, sondern auch die emotionale Verbindung mit anderen. Aber selbst wenn wir uns immer wieder sagen, dass Menschen rationale und vernünftige Wesen sind, könnten wir doch auch eine ganze Reihe von Beispielen finden, die belegen, wie oft wir uns irrational verhalten. Und das ist eigentlich etwas Gutes.
Um manche Situationen in der europäischen Politik zu verstehen, ist es wichtig zuzugeben, dass Emotionen entscheidend sind. Erinnern wir uns nur an den Kampf zur Lösung der Krise in der Eurozone bei der Suche nach einer Lösung für den Staatshaushalt Griechenlands, als die Wirtschaft in einem kritischen Zustand war.
Wenn wir voraussetzen, dass der Mensch nicht nur ein «homo economicus» ist, das heißt, dass er/sie nicht nur ein Verbraucher oder ein Marktteilnehmer ist, sondern auch Bürger, dem Würde und Freiheit gegeben sind, dann war der Kampf, der zur sogenannten Griechenland-Krise führte, sehr kennzeichnend.
Während die Bürger gezwungen waren, den Gurt enger zu schnallen und buchstäblich kein Geld zum Sparen hatten, gelang es manchen Banken ziemlich gut, ihre Einkünfte während der gesamten Krise zu sichern. Während in Brüssel die Lösung der Krise durch die Anwendung von Sparmaßnahmen durchgeführt wurde, sahen die Bürger in Griechenland dies als ein Reiben von Salz in ihre Wunden. Emotionen stiegen hoch, verärgerte Bürger wandten sich gegen die Regierung, gegen die Europäische Kommission und die Bankiers; auch zum Beispiel gegen Deutschland und sogar gegen die Bundeskanzlerin Angela Merkel selbst.
Diese Atmosphäre intensiver Emotionen war aber etwas, das die Griechen vorwiegend unter sich erlebten. Allein sprachlich war sie für andere nicht zugänglich. Kulturell war sie mit der griechischen Geschichte verbunden, mit Bildern der Geschichte. Und das bedeutete, dass anderen Europäern nicht nur die Mittel fehlten, um die Griechen zu verstehen und mit ihnen zu sympathisieren, sondern auch um ihnen in irgendeiner Weise zu helfen. Rückblickend hätten wir griechischen Kindern einen Urlaub bei uns zuhause anbieten können. Das hätte deren Eltern eine Pause verschafft, und wir hätten für die Zukunft wichtige Beziehungen knüpfen können.
In ähnlicher Weise könnten wir uns an die emotionalen Erfahrungen der Bürger anderer EU-Mitgliedsstaaten erinnern. Es ist, als ob unsere eigenen politischen und sozialen Anstrengungen auf das Gebiet unserer Muttersprache beschränkt bleiben. Es mangelt an starken Medien, es fehlen Vermittler, was bedeutet, dass wir irgendwie mit unseren Emotionen allein gelassen worden sind.
Trotzdem bin ich überzeugt, dass auch der beste Journalist, der geschickteste Diplomat oder der versierteste Politiker nicht vollständig in der Lage wären, die Not, die Angst oder die Hoffnung und Erwartungen zu vermitteln, die wir in unseren Sprachgemeinschaften erleben. Denn es tatsächlich so, dass diejenigen, die eine gemeinsame Muttersprache haben, einander sehr schnell verstehen können.
Als ich jünger war, habe ich Geige gespielt und war viele Jahre in ganz Europa mit einem Orchester unterwegs. Immer wieder habe ich diese Erfahrung als Musiker konkret vor Augen. Auch heute noch muss ich zugeben, dass Musikers fähiger sind zu kommunizieren und eine Botschaft unter unseren Nationen zu vermitteln, als die besten politischen Reden. Tatsächlich arbeiten Emotionen und Kunst Hand in Hand, mit Bildern und Ausdrucksformen, für die wir oft keine Worte finden können.
Und das bedeutet, dass wir in unserer heutigen Welt nicht nur neue Institutionen brauchen, sondern auch Künstler, damit sie uns die Themen vermitteln können, die jetzt vielleicht erst am Aufkommen sind, aber doch schon dringend das Denken der Menschen beschäftigen und sie zum Handeln bewegen. Künstler können der Falle des Übersetzers entgehen. Künstler können mit Inhalten arbeiten, die sonst herausgeschnitten würden, von Zensoren, die Texte überprüfen, ob diese politisch korrekt sind.
Wenn wir auf das traurige Erbe der großen Krise zurückschauen, die 2008 bei den US-Banken begann, sehen wir, dass in vielen Fällen auch die Etats der kulturellen Institutionen beschnitten werden mussten.
Aber weil die Welt, in der wir heute leben, emotional so beunruhigt oder entnervt ist, wäre es wohl an der Zeit, genau das Gegenteil zu tun: die Kunst in den öffentlichen Raum zurückbringen. Der Öffentlichkeit helfen, herauszufinden, was sie gerade mit Hilfe der Künstler erlebt. Und Kindern die Werkzeuge geben, die sie brauchen, um Kunst zu verstehen; denn sonst bleibt jeder von uns ein bisschen allein mit seinen Emotionen, so als wären diese in Flaschen unter Verschluss. Oder es wird jeder ein bisschen allein bleiben, wenn wir über die Atmosphäre in unserem Land als Ganzes reden.
Die zweite Herausforderung: Bürger oder Verbraucher.
Früher oder später müssen wir uns die Frage stellen: Was verstehen wir unter dem Begriff «Mensch»? Meinen wir damit einen Akteur in der Wirtschaft, einen Marktteilnehmer, einen Verbraucher oder einen Bürger?
Schon bei den ersten Anfängen der europäischen Integration lag die Betonung auf der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, und das war sicherlich am effektivsten und vernünftigsten. Damals half es, gemeinschaftliche Prozesse in Gang zu setzen, ohne dass man über Streitpunkte reden musste, oder diese gar durch ein Referendum entscheiden zu müssen. Der Begründer der europäischen Integration entwickelte seine Methoden aus der realen Lebenserfahrung. Der Franzose Jean Monnet, der während des Krieges in London arbeitete, sah dort mit eigenen Augen die Unfähigkeit der Alliierten, die Versorgung unter den Truppen zu koordinieren.
Heute kann diese Betonung der Wirtschaft nicht nur in der EU beobachtet werden, sondern auch in unseren einzelnen Ländern. Und wieder müssen wir uns fragen, was wir unter dem Menschen verstehen. Wenn wir ihn als Verbraucher sehen, dann müsste es unser Ziel sein, die höchste Lebensqualität zu einem erschwinglichen Preis bereitzustellen. Aber wir können den Menschen auch anders sehen: ich meine, als mit Würde begnadetes Individuum, als freies Wesen, als Person mit individueller Verantwortung, die das Bedürfnis hat, Beziehungen zu anderen einzugehen.
Aber eine freie unabhängige Person, die isoliert lebt, kann nicht unser Ideal sein. Denn die Einsamkeit ist eines der Phänomene heutigen Lebens, das unsere Gesellschaft sehr schwächt. Einsamkeit bedeutet Beziehungsarmut. Und davon gibt eine Fülle um uns herum. Wenn ein Mensch aber allein bleibt, kann er das Opfer verschiedenster Raubtiere werden, solche die Informationen und Desinformationen verbreiten oder auch wirtschaftliche Raubtiere, die den Menschen Dinge verkaufen, die sie gar nicht brauchen.
Ein Individuum kann nicht glücklich sein ohne Solidarität und ohne Gemeinschaft und echte Freunde. Auf der Ebene der gesamten Gesellschaft sehen wir dies in solchen Gemeinschaften, die fähig sind zusammenzuleben, die sich im Dialog engagieren und die zusammenkommen, um Problemlösungen zu finden. Auf lokaler Ebene gestalten sie Beziehungen, zu denen Nachbarschaftshilfe, Solidarität und Gegenseitigkeit gehören. Eine solche Gesellschaft ist mit Sicherheit widerstandsfähig. Angesichts einer Bedrohung können Menschen sich selbst und anderen helfen, sie finden ihren Platz in der Gesellschaft und leisten den Bedürftigsten Hilfe.
Aber täuschen wir uns nicht! Wir sind schon oft an solchen Scheidewege gestanden, und dies nicht nur bei Wahlen. Wirtschaft ist ganz sicher von größter Bedeutung für die Verwaltung unserer Länder: Ohne vernünftige und verantwortliche Nationalökonomen wären wir nicht einmal in der Lage, den Staatshaushalt aufzustellen. Aber lasst uns auch danach fragen, wie unsere Entscheidungsträger auch den Einzelnen verstehen. Vielleicht verstehen sie ihn als Verbraucher, das heißt, zur einmaligen Nutzung geeignet, bis zur nächsten Wahl. Aber es könnte auch sein, dass sie den Einzelnen als Partner sehen, als Teamkollegen, als Bürger. Wir wollen unseren Glauben und unser Vertrauen auf diese Art von Politikern setzen.
Die dritte Herausforderung: Gemeinschaft oder Masse.
Die dritte Herausforderung, die wir in der heutigen Gesellschaft beobachten, ist die Ausbreitung der sozialen Netzwerke […]
Hier den vollständigen Text herunterladen: 2018 11 16 Pavel Fischer, Trägerkreis MfE Prag>>
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