Miteinander für ein offenes und menschenfreundliches Europa
Als das Miteinander für Europa am 31. Oktober 1999 ins Leben gerufen wurde, dem Tag der Unterzeichnung der gemeinsamen Erklärung über die Rechtfertigungslehre, herrschte ein hoffnungsvolles Klima.
Ein wichtiges Zeichen der Einheit nach fast 500 Jahren der Trennung wurde gesetzt. Verschiedene geistliche Gemeinschaften und Bewegungen aus evangelischen und der katholischen Kirche trafen sich im ökumenischen Lebenszentrum in Ottmaring, um zu überlegen, wie diese grundlegende Erklärung rezipiert werden könne. Diese Erklärung musste sich auch im Alltag auswirken und durfte nicht nur ein Text bleiben. Karl Barth sprach davon, dass der Christ in der einen Hand die Bibel und in der anderen die Zeitung tragen müsse.
Die Christen hatten in den Jahrhunderten seit der Reformation Martin Luthers und anderer Reformatoren durch ihre Spaltungen und Streitigkeiten immer wieder schwerwiegende Konflikte ausgelöst oder konnten dadurch ihre Mission als Werkzeug der Einheit und des Friedens nur unzureichend erfüllen. Die Spaltungen waren ein trauriges Zeichen der Schwäche angesichts dramatischer Entwicklungen, deren Höhepunkte im 20. Jahrhunderts mit den beiden Weltkriegen und dem Abgrund der Shoah erreicht wurden.
Trotzdem waren Christen immer wieder glaubwürdige Zeugen. Johannes Paul II. sprach in der Ankündigung des Jubiläums des Jahres 2000 davon, dass die Kirche unserer Zeit wieder und wie niemals zuvor zu einer Kirche der Märtyrer geworden ist. Das sei, so der polnische Papst, der die Unterdrückung der Kirche in seiner Biographie selbst erlebt hatte, ein ökumenisches Phänomen gewesen. Nicht nur weil es alle Konfessionen betrifft, sondern auch weil die Christen bei den Verfolgungen in den Gulags und Konzentrationslagern schon eine Einheit im Leiden gelebt haben, die wir noch aufbauen müssen. Andrea Riccardi hat diese Geschichte eindrucksvoll in seinem Buch „Salz der Erde, Licht der Welt“ dargestellt.
Mit dem historischen Ereignis der gemeinsamen Erklärung musste eine neue Geschichte der Einheit und der Zusammenarbeit beginnen. Nach so vielen von Europa ausgegangenen Spaltungen und so viel Gewalt, wollten die Bewegungen mithelfen, ein Europa aufzubauen, das zum Frieden, zur Gastfreundschaft und zu einer Offenheit beiträgt. Die Globalisierung hat eine Einheit der Ökonomie, des Geldes, der Kommunikation herbeigeführt, allerdings fehlt die Seele, es fehlt die Einheit der Völker und Kulturen in einem friedlichen und offenen Zusammenleben. Hier haben die Bewegungen eine Berufung erkannt, eine zweite Berufung zur eigenen des jeweiligen Charismas.
In der nun fast 20jährigen Geschichte des Miteinanders haben wir verschiedene Phasen erlebt. Es gab die Zeit der Euphorie mit der Währungsunion und der Osterweiterung des Jahres 2004, die beim ersten großen Kongress in Stuttgart spürbar war. Die Bewegungen wollten den Prozess der europäischen Einigung stärken und unterstützen. Denn nach den Überzeugungen der christlich geprägten Gründerväter der europäischen Einigung, die 2017 das 60jährige Jubiläum der Römischen Verträge feiern konnte, braucht dieser Prozess eine spirituelle Grundlage. Europa braucht eine Seele, so haben wir wiederholt betont.
Heute hat sich Skepsis gegenüber Europa ausgebreitet. Es gibt besorgniserregende Tendenzen der Abschottung, Mauern werden gebaut, Europa wird zu einer Festung, die ausgrenzt und abweist. Eine diffuse Angst zeigt sich in allen europäischen Gesellschaften und ergreift auch die Christen. Diese gefährliche Angst führt zu neuen, ausgrenzenden Nationalismen, zu Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus bis hin zu rechtsextremen und faschistischen Bewegungen, die zunehmend Einfluss nehmen in der Politik Europas.
Daher stellt sich in dieser Zeit mit neuer Dringlichkeit die Frage unserer Berufung im Miteinander. Während das Gegeneinander zunimmt, müssen die Christen und auch die christlichen Bewegungen das Miteinander vertiefen. Unser Weg ist immer von Gastfreundschaft und Offenheit geprägt gewesen. Die Einheit wird nur möglich durch Offenheit, gegenseitiges Kennenlernen und Aufnahme des anderen. Gerade in dieser historischen Phase wird die Kühnheit und Prophetie der Christen benötigt. Denn die aktuellen Tendenzen in unseren europäischen Gesellschaften sind gefährlich und fördern die Gewalt. Darunter leiden vor allem die Armen, die Flüchtlinge, die Fremden und alle, die am Rande leben.
Der Europatag am 9. Mai kann ein günstiger Augenblick sein, um auf die Schönheit und Bereicherung der Einheit hinzuweisen. Wir können deutlich machen, dass Vielfalt, Offenheit, Gastfreundschaft und Aufnahme des Fremden keine Gefahr sind, sondern eine Bereicherung für alle darstellen. Aus den Quellen des Evangeliums entstanden vielfältige Bewegungen mit eigenen Geschichten, Berufungen und Charismen. Doch das nimmt niemanden etwas, im Gegenteil, in der Begegnung haben wir uns gegenseitig bereichert und unser eigenes Charisma vertieft. Diese Erfahrung wird heute noch mehr gebraucht als vor 18 Jahren, als in Ottmaring unser gemeinsamer Weg begann.
Pfr. Matthias Leineweber