Andrea Riccardi, Gründer der Gemeinschaft Sant’Egidio, während der ökumenischen Gebetsfeier in Rom 2017
Liebe Freunde,
Lassen Sie uns ehrlich sein: viele Europäer fühlen sich verloren und desorientiert. Wohin geht Europa? Wird es der Versuchung einer Trennung widerstehen können? Europa scheint seine Bürger nicht mehr zu schützen. Tatsächlich versucht es, den entgegengesetzten Weg zu gehen, den die Gründerväter Europas beschritten haben. Sie hatten noch eine lebendige Erinnerung an die Grauen des Krieges, die Mauern des Hasses, an die Konzentrationslager und die Ruinen. Diese Generation gibt es nicht mehr. Heute wird die Geschichte mit einer Politik der Emotionen und Ängste geschrieben. Erinnerung an Krieg ist heute „normal“. Aber für den, der noch gestern im Irak und im Libanon gesehen hat, dass Krieg weiteren Krieg hervorruft, ist dies alles Wahnsinn.
Europa kann nicht ohne Gedächtnis leben. Wir werden der Kontinent der Zukunft sein, wenn wir die Erinnerung wachhalten. Seit siebzig Jahren leben wir in einem großen Frieden, der nach Jahrhunderten des Krieges solide aufgebaut wurde. Er ist die Frucht eines vereinten Europas: der Frieden hat Wohlstand und die Entwicklung einer Kultur von ihren Wurzeln her hervorgebracht. Er ist eine klar zu erkennende Realität, die stärker ist als die allgegenwärtigen Emotionen und Ängste der Gegenwart. Dieses Europa ist unser Friede und unser Wohlstand.
Seine Krise ist durch Egoismen entstanden: nationale, von Interessengruppen, durch individuelle Zielsetzungen. Europa hat den Sprung nicht gewagt, um durch Außenpolitik und gemeinsame Verteidigung zum Protagonisten der Weltszene zu werden. Dabei geht es nicht nur um Frieden für Europa, sondern um eine gemeinsame Friedenspolitik im Mittelmeerraum, dem Balkan, in Afrika, in der Welt. „Europa, sanfte Kraft“, nannte es Tommaso Padoa-Schioppa. Die Egoismen drohen jetzt, es zu blockieren und von innen her zu verschlingen. Die Egoismen wollen wieder Herren der nationalen Schicksale sein und sehen die anderen als Bedrohung. So bekommen Grenzen einen neuen Stellenwert: gegenüber Einwanderern, zwischen Jung und Alt, zwischen den Reichen und Zerbrechlichen, zwischen Nord- und Südeuropa.
Grenzen können zu Mauern werden: sie scheinen die Tragödien der Welt fern zu halten. Der grausame Krieg in Syrien, der bereits sechs Jahre dauert, länger als der Erste Weltkrieg, betrifft auch Europa. Es ist eine Illusion, zu denken, dass die Mauern schützen, in Wirklichkeit sind sie Zeichen von Dekadenz. Sie sind die Maginot-Linie der moralischen und politischen Niederlage Europas.
In der globalen Welt hat die Geschichte keine Schutzwälle, sondern erfordert starke Akteure und Zusammenhalt. Sie fordert, gemeinsam voran zu gehen und sich nicht auf der Suche nach Schutzräumen für Gruppen oder Nationen zurückzuziehen. Eine neue globale Zeit ist angebrochen. Es gibt keinen Weg zurück. Die autarken Nationalstaaten sind von gestern. Wir müssen die Größe der Herausforderung und des heutigen Lebens erkennen. Es hilft nicht, den Kopf in den Sand zu stecken. Ein abgeschlossenes oder geteiltes Europa wird von den Märkten und den wirtschaftlich-politischen Giganten in einer globalen und vernetzten Welt überrollt werden. Auf dem Hintergrund der Globalisierungsszenarien brauchen wir mehr Europa. Nur so ist Europa das Land der jungen Menschen, und wo unsere humanistische Identität, unsere religiösen und humanitären Rechte überleben werden. Es ist nicht genug, nur das Land zu sein, das uns für ein paar Jahren im Ruhestand schützt. Ohne Europa ist die Welt ohne die Kraft des Friedens und der historischen Weisheit.
Wir haben uns hier als Christen versammelt. Die europäische Idee ist nicht sektiererisch entstanden, sondern sehr christlich. Sie glaubte mit der Leidenschaft der Kirchen jener Zeit. Aber heute gehen Ost und West verschiedene Wege. Wo sind die Stimmen der Christen und der Kirchen? Das große europäische Projekt stockt. Die Grenzen werden zu Mauern, um die Flüchtlinge abzuhalten. Die Welt ist in Kriegsgefahr, und oft gibt es nur Schweigen.
Die starke Stimme von Papst Franziskus bei der Verleihung des Karlspreises verhallt beinah ungehört im gespaltenen Christentum, im fragmentierten Europa. Es ist nicht in der Lage, sich aus den gesellschaftlichen und kirchlichen Egoismen zu befreien und eine Vision zu nähren. Möge dieses Gebet, möge das Wort Gottes – wie in den Tagen der Propheten – in den Köpfen und Herzen eine große Vision für unsere Zeit wachsen lassen. Wir müssen lernen, wieder mit einer Vision zu denken und zu handeln. Zu lange haben wir beengt und mit lichtlosen Worten gelebt. Karol Wojtyla schrieb zu einer Zeit, als Europa durch eine hohe Mauer geteilt war: „Die Welt leidet vor allem aus Mangel an Visionen.“
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