Beitrag von Jaroslav Šebek, Historiker, Tschechische Republik, zum Trägerkreis von Miteinander für Europa, Prag 16.11.2018 – „Die Kirchen in der Tschechischen Republik und die Herausforderungen der heutigen, turbulenten Zeit“
Die Novemberereignisse 1989 und der Zerfall des kommunistischen Totalitätsregimes in der Tschechoslowakei öffneten nach mehr als vierzig Jahren ein breites Wirkungsfeld für die Tätigkeit der Kirche und der Christen im Allgemeinen und brachten nicht nur große positive Änderungen und neue Möglichkeiten, sondern auch Probleme und damit verbundene Herausforderungen. Die christlichen Kirchen traten in die neue politische Konstellation nach dem „Wunderjahr“ 1989, mit einem großen moralischen Kredit ein. Positive Bewertung ging von der Rolle aus, die die christlichen Kirchen in der Zeit des kommunistischen Regimes gespielt hatten, als sie einerseits stark von einer großen Verfolgung betroffen waren und andererseits eine verständliche Alternative zur herrschenden marxistischen Ideologie darstellten.
Was man nach dem Jahre 1989 im bedeutenden Maße als gelungen bezeichnen kann, ist sicher – außerdem – die Entwicklung der ökumenischen Kontakte. So konnte beispielsweise die Kirchenspaltung überwunden werden in puncto M. Johann Hus, dessen Vermächtnis von Vertretern der Kirche und von Konfessions- und Säkularexperten auf einem 1999 in Rom stattfindenden Symposium objektiv bewertet wurde. Bei diesem Symposium hatte auch der damalige Papst Johannes Paul II. (1920-2005) zum Auftakt des Heiligen Jahres 2000 um Vergebung für die Leiden des Reformators Hus, der 1415 während des Konstanzer Konzils verurteilt und verbrannt worden war, und seiner Anhänger gebeten. Wörtlich sagte Papst damals: „Heute, an der Schwelle zum Großen Jubeljahr, fühle ich mich verpflichtet, mein tiefes Bedauern auszusprechen für den grausamen Tod von M. Johannes Hus und für die daraus folgende Wunde, Quelle von Konflikten und Spaltungen, die dadurch in den Geist und die Herzen des böhmischen Volkes gerissen wurde“.
Ökumenische Aspekte der Reflexion und weiteren Erforschung der Bedeutung von Meister Jan Hus spiegelten sich auch in der gemeinsamen Erklärung des damaligen Prager Erzbischofs Kardinal Miloslav Vlk (1932-2017) und des Synodalsenioren der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder Pavel Smetana (1937-2018) zum Vermächtnis von Jan Hus für die tschechischen Christen vom Anfang Januar 2000 wider. Die römische Konferenz trug zu einer weiteren Auffindung gemeinsamer Sichten der Bedeutung von Hus‘ Person sowie zur Annäherung über die Konfessionsgrenzen hinweg bei, was auch eine koordinierte Vorbereitung des sechshundertjährigen Todestages von Jan Hus in dem Jahr 2015 ermöglichte.
Während der relativ kurzen Zeit von einigen Jahrzehnten wandelten sich die Sichtweisen der Bedeutung von Jan Hus, vieles davon verlor an Konfliktpotenzial und Unversöhnlichkeit. Eine Bestätigung dieses Trends war neuestens auch das ökumenische Gedenken an das Vermächtnis von Meister Jan Hus am 15. Juni 2015 im Vatikan. Sein Höhepunkt war zweifellos das Treffen mit Papst Franziskus. Neben Kardinal Miloslav Vlk nahmen daran unter anderem auch die höchsten Vertreter der beiden mitgliederstärksten nichtkatholischen Kirchen teil: Synodalsenior der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder Joel Ruml (1953) und der Patriarch der Tschechoslowakischen Hussitischen Kirche Tomáš Butta (1958). Der Papst erklärte in seiner Ansprache für die tschechische Delegation, dass viele Zwistigkeiten der Vergangenheit im Licht des neuen Kontextes, in dem wir leben, umbewertet werden müssen. Im Licht dieses Herangehens ist es ferner erforderlich, ideologisch unvoreingenommen die Person und die Tätigkeit von Jan Hus zu studieren, der lange Streitgegenstand unter den Christen war und heute zu einem Beweggrund für den Dialog geworden ist. Der Akzent von Franziskus war auch darin bedeutsam, dass er bei dem Treffen die Notwendigkeit einer verbindenden Zusammenarbeit hervorhob und auch ein wesentliches Entgegenkommen gegenüber den nichtkatholischen Kirchen zum Ausdruck brachte.
Im kirchlichen Bereich entstanden nach der politischen Wende jedoch auch die großen Konflikträume. Bald nach der Revolution lebten jedoch die Bilder wieder auf, die den Katholizismus als Feind des Fortschritts und Patriotismus präsentierten, Bilder, wie sie durch die Werke der national-liberalen Literatur im 19. Jahrhundert im tschechischen kollektiven Gedächtnis erhalten blieben und dann in der Zeit der Ersten Republik und selbstverständlich von der kommunistischen Propaganda genährt wurden. Und so kam es schrittweise zu einem rasanten Abfall der Autorität der katholischen Kirche in der tschechischen Öffentlichkeit, der auch heute ein charakteristischer Zug ist. Die Beziehung der Gesellschaft zur katholischen Kirche ist zweifellos eines der trennenden Momente zwischen der Tschechischen Republik und den postkommunistischen Ländern Mitteleuropas, vor allem Polens und Ungarns. Einige Entwicklungstendenzen sind jedoch gemeinsam. Die Staaten und Gesellschaften des ehemaligen Ostblocks sind nämlich mit ähnlichen Problemen und zugleich Anforderungen hinsichtlich des Übergangs zu nichtautoritären Ordnungssystemen konfrontiert, also mit den ökonomischen Auswirkungen ihrer Transformation, mit dem Aufbau einer neuen politischen Kultur und allgemein mit der Schaffung von Raum für einen demokratischen Diskurs.
Ein gemeinsames Merkmal der mitteleuropäischen postkommunistischen Staaten ist auch die sinkende Attraktivität der Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Nach 1989 rief die Mehrheit der Öffentlichkeit nach dem Fall des Eisernen Vorhangs im ehemaligen sozialistischen Block, also auch bei uns, spontan nach einer „Rückkehr nach Europa“. Der verlockende Grund war der Traum vom Wohlstand des Westens, vom gleichen Lebensstandard, den auch wir hinter unseren Grenzen sehen konnten. Die Flüchtlingskrise brachte jedoch für die Zukunft der europäischen Integration einen grundsätzlichen Prüfstein, an dem unterschiedliche Konzepte aufeinanderprallen und wieder steht hier symbolisch Ost gegen West. Die Flüchtlingskrise bedeutet nicht nur wachsende Risiken für Wirtschaft und Sicherheit, sondern öffnet das Thema der Verteidigung der christlichen Werte, und zwar insbesondere im postkommunistischen Osten.
Der tschechische Fall ist jetzt besonders interessant, weil auch im so stark säkularisierten Land begann man von christlichen Wurzeln zu sprechen, freilich vor allem in der ideologisierten Form. Verfechter der Ansicht, dass christliche und europäische Werte verkündet und verbreitet werden müssen, wissen jedoch nicht einmal richtig, oder definieren nicht, welche Werte sie im Sinn haben. Der Glaube in Tschechien erschlaffte und so finden wir unter der Überschrift ‚Unterstützung des Christentums‘ eher eine von der Angst vor dem Einfluss des Islams und anderer Kulturen motivierte Ideologie. Für die Standpunkte der Kirchenkreise zu den Flüchtlingen ist ein Balancieren zwischen Solidarität und der deklarierten Angst vor den kulturellen Auswirkungen typisch. Eine der allgemeineren Ursachen der Krisenerscheinungen ist das Fehlen klarer ideeller Visionen. Die heutige Europäische Union verlässt sich nicht mehr so sehr auf die Überzeugungskraft von Ideen, sondern rein auf technokratische Lösungen. Die geringe Autorität der Europäischen Union wird jedoch oft zu Recht mit der Unglaubwürdigkeit ihrer führenden Vertreter und deren Unfähigkeit zu einer starken ideellen Reflexion der Probleme in Verbindung gebracht. In der tschechischen Gesellschaft bestehen jedoch auch weitere Herausforderungen, die ich auch als christliche Antworten auf die Zeichen der Zeit bezeichnen würde.
Während der letzten Generation erhielt der „flüssige Zorn“ des Teiles der Öffentlichkeit und die Abneigung gegen die gesellschaftlichen Eliten ein neues Medium: die sozialen Netze im Internet. Dort können Frustrierte und Aufgebrachte anonym all ihre Bosheit hinausschreien und sich gegenseitig in ihrem negativistischen Weltbild bestärken. In diesen trüben Gewässern fischen nicht nur die tschechischen Populisten ihre Anhänger und ihre Sternstunde wurde die Einwanderungskrise der letzten Jahre. Den Populisten gelang es sehr oft, die verständlichen Befürchtungen in eine Hysterie der Angst und des Hasses zu verwandeln und sich als Retter aufzuspielen. Eines der Probleme der heutigen Zeit ist auch die Kommunikationsverkapselung aufgrund der Möglichkeiten der sozialen Netze, was tatsächlich miteinander nicht kommunizierende Filterblasen hervorruft, Gemeinschaften, die auch einen unsinnigen oder konspirativen Blick auf die Welt teilen, die sich leicht durch eine geschickt verbreitete, als Wahrheit ausgegebene Propaganda manipulieren lassen. Während in der Zeit des Kommunismus bei uns eine Informationswüste herrschte, bewegen wir uns heute in einem Informationsdschungel. Das Ergebnis ist jedoch das gleiche: Orientierungsverlust und größere Anfälligkeit für Manipulationen sowie Misstrauen gegenüber jedem und allem. Die Menschen vereinigen sich außerdem virtuell zu kleinen Gemeinschaften mit derselben geteilten Weltsicht, kommunizieren jedoch nicht mit den anderen Gruppen und leben – übertrieben ausgedrückt – in Parallelwelten.
In der bestehenden Situation, in der wir um uns herum einen beschleunigten Zerfall der bisherigen Sicherheiten, der zwischenmenschlichen Beziehungen, durch die neuen Technologien ein sich Verschließen in „Kommunikationsghettos“ sehen, begleitet durch ein wachsendes Angstgefühl und den aggressiveren Ton der Diskussionen, die dann der Katalysator weiterer trennender Meinungen in der Gesellschaft ist. In dieser Situation ist es fast existenziell notwendig, nach gemeinsamen Interessen zu suchen, die die Mitglieder gemeinsam artikulieren würden, allerdings mit Betonung auf den gesamteuropäischen Kontext.
Diese Tatsache ist gerade heute dort wichtig, wo es scheint, dass das ganze Projekt der europäischen Integrierung und die Schaffung formativer Vorbilder auf der Basis der verbindenden Werten in Gefahr ist. Vor allem die Auswirkungen der Migrations- und damit verbundene Kulturkrise in der Orientierung dann bringen zum Erfolg verschiedene populistisch-nationale Bewegungen in der Mehrheit des „alten Kontinents“.
Wie ich vermute, hängt die Kraft des Populismus mit dem Mangel an Glauben in unserer Gesellschaft zusammen. Mit Glaube meine ich jedoch etwas weit Tieferes als nur die Zustimmung zu Dogmen oder den Besuch von Gottesdiensten. Dabei denke ich an den Glauben als Lebensorientierung. Lebendiger Glaube ist Therapie gegen die Angst. Wo es wenig Glaube gibt, da ist viel Angst, und wo viel Angst ist, da ist viel geistliche Blindheit und Aggressivität, und wo es viel geistliche Blindheit und Aggressivität gibt, da siegen die Demagogen, die diese Angst potenzieren, die Verblendung missbrauchen und für das sich Entladen des „flüssigen Zorns“ nach geeigneten Zielen suchen – einst waren das die Juden, die Deutschen, dann unter dem kommunistischen Regime die Bauern und Gewerbetreibenden, heute sind es die Flüchtlinge und Muslime – und wenn der Populist die Angst und das Gefühl des Bedrohtseins gehörig geschürt hat, bietet er sich als Retter an. Deshalb ist es doch interessant, wie schwer in unserer gespaltenen tschechischen Gesellschaft auch die katholische Kirche selbst und ihre Repräsentanten nach Orientierung suchen. Die Kirchenrepräsentanten vermögen auch kein klares Wort zu unserer Mitgliedschaft in der EU zu sagen. Vor allem kritisieren sie die sog. neomarxistischen Tendenzen im Genderbereich und die kulturelle Unausgeprägtheit Europas. Deshalb schließen sich auch einige Bischöfe jenen Politikern an, die sich, wie ich bereits sagte, verbal zu den christlichen Werten bekennen, sie jedoch faktisch nur als Teil ihrer ideologischen Ausstattung benutzen, dass also das Christentum nur als Ideologie benutzt wird und kein Teil der geistlichen Identität ist. Hierin unterscheiden sich viele kirchliche Würdenträger in Tschechien von Papst Franziskus, und so scheiden sich an der Bewertung des derzeitigen Kirchenoberhauptes die Ansichten der Gläubigen. Im Vergleich zu seinen Vorgängern repräsentiert Franziskus eine Wende darin, dass seine Worte glaubwürdig wirken und ein Zeichen seiner allgemeinen Offenheit sind. Seine Gesten an der Öffentlichkeit – Fußwaschung an Flüchtlingen, Verzicht auf pompösen Prunk und Luxus – zeugen davon, dass er das Bild des Papsttums ändern und dem „gewöhnlichen Menschen“ näher sein will. Dies vertieft selbstverständlich noch die Polarisierung seiner Wahrnehmung in den Reihen der Kirche. Eine weitaus durchdachtere Sichtweise der heutigen Probleme der tschechischen Gesellschaft finden wir eher in der evangelischen als in der katholischen Umgebung. Dies belegt die jüngste Debatte zur eventuellen Aufnahme von syrischen Waisen, bei der Kardinal Duka im Unterschied zum evangelischen Spitzenvertreter vor allem der politischen Entscheidungslinie folgte.
Im Ringen mit Populismus, Angst und Vorurteilen sowie mit der Arroganz einer amoralischen Macht brauchen wir aber den Glauben, der die ethischen und allgemein menschlichen Werte reflektiert. Das Herz des Glaubens ist das, was das Evangelium Metanoia nennt – die Umkehr von Oberflächlichkeit, vom Verlorensein inmitten der lärmenden Megafone der Propaganda zu Tiefe, zum Inneren, zum Tempel des Gewissens, das mit einem rationellen Blick auf die Dinge kombiniert sein sollte. In der Atmosphäre der gesellschaftlichen Unruhe sollten die christlichen Kirchen in der engen Zusammenarbeit mit der bürgerlichen Gesellschaft quer durch Europa eine wichtige Rolle bei der Verbesserung der Lage spielen.
Hier der Text zum herunterladen: 2018 11 16 Jaroslav Sebek, Trägerkreis MfE Prag>>
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