„Staunen über eine Bewegung des Geistes Gottes in unserer Zeit.“ Walter Kardinal Kasper hat den Weg von Miteinander für Europa von Anfang an begleitet. Während des Kongresses in München, am 30. Juni 2016, unterstrich er was ihm wichtig ist und wofür er mit uns einsteht.
GOTTES GEIST WIRKT AUCH IN UNSERER ZEIT MÄCHTIG
Liebe Freunde, wunderschön wieder bei euch zu sein und noch wunderschöner zu sehen, was seit Stuttgart 2004 aus euch geworden ist. Der Traum von damals beginnt Wirklichkeit zu werden. Gottes Geist ist auch in unserer Zeit mächtig. Wir haben Grund zu danken.
Unser Traum
Angefangen hat es am 31. Oktober 1999 in Augsburg. Evangelische und katholische Christen haben amtlich gemeinsam festgestellt: Gemeinsam bekennen wir, Jesus Christus ist unser Heil. Viele haben gesagt: Diese Erklärung bedeutet nichts; sie ist folgenlos geblieben. Nein, nicht folgenlos ist sie geblieben. Ihr seid die Folge, eure Bewegung [Miteinander für Europa] ist die Frucht. Papst Johannes Paul II. hatte Recht. Die Erklärung war ein Meilenstein.
Ein Meilenstein ist eine Etappe auf dem Weg, nicht das Ziel. Die nächste Etappe steht vor uns: der Herbst 2016 in Lund, der Oktober 2017 in Wittenberg. Wieder gibt es Zweifler. Wir sagen: 500 Jahre Trennung, das reicht. Das kann nicht so bleiben. Es wäre Verrat an Jesus Christus und eine Schande vor der Welt, wenn wir es nur bei schönen Worten beließen.
Wir haben einen Traum. Denn wir wissen: Die Ökumene ist ein Durchgang des Heiligen Geistes durch die Kirche. Auf ihn ist Verlass. Er hat die ökumenische Bewegung angestiftet; er wird sie auch zu Ende führen. Einheit in versöhnter Verschiedenheit ist möglich. Sagt den zögerlichen Experten der Trennung: Wir sind Experten der Einheit. Wir haben erfahren: Es ist schon heute mehr möglich als ihr denkt! Alle müssen sich bewegen; alle müssen umdenken und umkehren!
Miteinander in Europa
Die Einheit der Kirche ist umso wichtiger als heute die Einheit Europas in Gefahr ist. „Gemeinsam für Europa“ ist heute wichtiger denn je. Als ich jung war, nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, da war Europa für uns Junge ein Friedensprojekt. Aus Feinden sollten Freunde werden, und wir sind es geworden. 70 Jahre Frieden ist uns geschenkt worden, länger als jemals zuvor in der Geschichte Europas. Frieden und Wohlstand, wie ihn unsere Vorfahren nicht einmal hätten träumen können. Das ist kein Traum, das ist eine Wirklichkeit. Das ist unsere Zukunft.
Dazu braucht Europa eine florierende Wirtschaft. Niemand bestreitet das. Wirtschaft ist eine unerlässliche Grundlage des Lebens und des Überlebens. Doch Wirtschaft ist eine Grundlage, aber sie ist nicht der Sinn des Lebens. Deshalb braucht Europa mehr als Wirtschaft. Europa ist nicht nur Wirtschaftsgemeinschaft. Europa ist eine Wertegemeinschaft. Sie hat viele christliche Grundlagen, ohne die Europa nicht Europa sein kann. Das haben viele vergessen. Dafür neu einzutreten ist unsere Aufgabe.
Es kann nicht sein, das die längst tot geglaubten Gespenster eines nationalistischen Egoismus wieder aus ihren Gräbern steigen und Angst und Schrecken verbreiten. Jeder von uns liebt sein Vaterland, seine Sprache und seine Kultur. Wir wollen keine Gleichmacherei. Die Vielfalt Europas ist der Reichtum Europas. Aber Vaterlandsliebe hat nichts zu tun mit Nationalismus, der Mauern und Zäune baut oder meint, wir könnten uns auf eine nationale Insel der Seligen zurückziehen. Vaterlandsliebe ist offen, lässt sich bereichern und will andere bereichern. Wer dagegen Zugbrücken hochzieht, der wird bald selbst verhungern.
Papst Franziskus hat jüngst gesagt: Europa als „Work in progress“. Europa war nie einfach fertig, es war schon immer „in progress“. Es war schon immer seine Stärke, andere Kulturen zu integrieren: die Kelten, die Germanen, die Normannen, die Slawen, und den Muslimen begegnen wir heute auch nicht das erste Mal.
Nach dem Fall der Berliner Mauer haben wir geschwärmt, auf grenzenlose Kommunikation, auf universale Demokratie, universale Menschenrechte gehofft. Nun aber kommen die Probleme der eins werdenden Welt zu uns. Sie kommen nicht als abstrakte Zahlen, es kommen Menschen mit konkreten Gesichtern. Sie sind Kinder Gottes. Sie stellen uns vor neue Aufgaben: Wir sollen ihnen die Attraktivität des Christentums vorleben. Praktisch zeigen: Christ-sein ist eine gute Sache. Das können wir als Evangelische und Katholische nur gemeinsam, wenn wir die Gräben zwischen uns Christen überwinden.
Geht das? Ja, es geht. Als Christen glauben wir an die Auferstehung und das Wirken des Geistes Gottes. Wir glauben, dass das Leben stärker ist als der Tod und die Liebe stärker als der Hass. Jesus Christus ist mitten unter uns; er geht uns voran. Als Christen sind wir Zeugen der Hoffnung für ein neues Miteinander der Christen und für ein neues Miteinander in Europa. Nicht Angst, Hoffnung ist angesagt. Nicht Bedenkenträger, Brückenbauer und Hoffnungsträger sollen wir sein.
Walter Kardinal Kasper, emeritierter Kurienkardinal und ehemaliger Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen
Zum Herunterladen: MfE München 2016 – Gesprächsimpulse zum Beitrag von Kard. W. Kasper am 30. Juni 2016, Sr. Nicole Grochowina, Selbitz
0 Kommentare