Geschichte studieren, leben und lehren

von | Okt 14, 2017

Der 9. November 1989 ist ein unvergessliches Datum der neueren Geschichte: die Berliner Mauer fällt. An jenem Abend saß auch ich wie gebannt vor dem Fernseher, um das unerwartete Ereignis mitzuerleben, vom dem viele, vor allem wir Jugendlichen, die eigentliche Tragweite noch gar nicht erfassen konnten. Sicher, ich hatte in der Schule und an der […]

Der 9. November 1989 ist ein unvergessliches Datum der neueren Geschichte: die Berliner Mauer fällt. An jenem Abend saß auch ich wie gebannt vor dem Fernseher, um das unerwartete Ereignis mitzuerleben, vom dem viele, vor allem wir Jugendlichen, die eigentliche Tragweite noch gar nicht erfassen konnten.

Sicher, ich hatte in der Schule und an der Universität studiert, ich hatte sogar meinen Abschluss über moderne Geschichte gemacht, über die Jahre des kalten Kriegs und des Aufbaus des Eisernen Vorhangs… und nun zerbröckelte dieser in jenen Novembertagen unaufhaltsam. In den darauffolgenden Monaten erfuhren wir durch Zeitungen und Sonderberichten so manches über die Geschichte der Völker der Tschechoslowakei, Ungarn, Polen und Rumänien, die sich nun mit mehr oder weniger gewaltlosen Revolutionen  vom siebzigjährigen Joch der Sowjetunion befreiten.

An jenem 9. November 1989 hätte ich aber niemals gedacht, dass die Berichte und Bilder, die von den Medien verbreitet wurden, für mich schon bald Teil meines eigenen Lebens und zu konkreten menschlichen Begegnungen auf meinem Weg werden würden.

Es waren nur anderthalb Monate vergangen, als ich in Budapest aus dem Zug stieg, der mich von Rom über Slowenien und Kroatien nach Ungarn gebracht hatte. Tatsächlich hatte man mir eine Stelle als Italienisch- und Geschichtslehrerin an einem Gymnasium der ungarischen Hauptstadt angeboten. An jenem Dezemberabend erwartete mich in der rauchigen Atmosphäre der Bahnhofshalle eine spärliche Gruppe von Personen, die mir mit einem breiten Lächeln Blumen überreichte. Welcher Kontrast zu der Szene, die mich draußen auf dem Bahnhofsplatz  erwartete: aus großen Lastwagen stiegen gerade Duzende von russischen Soldaten aus.  Ja, dies war meine erste Begegnung mit einem Oststaat: Normale und mir gleich familiär anmutende Menschen, eingetaucht in eine graue und suspekte Atmosphäre, in der die Zeichen des „Kontrolliert-Seins“ noch deutlich spürbar waren, obwohl im Oktober 1989 der Beginn der Ungarische Republik proklamiert worden war. (Es vergingen jedoch noch gut zwei Jahre, ehe der letzte Soldat mit einem roten Stern auf der Mütze das Land für immer verließ).

Die ersten Monate in der neuen „Freiheit“ bedeuteten sowohl politisch als auch gesellschaftlich eine Übergangsphase: Während die demokratische Regierung die ersten Schritte unternahm und sich sogar mit Streiks konfrontiert sah (!), füllten sich die Geschäfte mit einer zunehmenden Vielfalt von Produkten, von denen manche aus dem Ausland kamen. Aber das Alltagsleben war immer noch kompliziert, besonders für mich Westlerin. Hatte ich mich etwa zuhause für ein Menu entschieden, war es dann nicht einfach, auf dem Markt die entsprechenden Zutaten zu finden! Eines Tages, im Jahre 1990, blockierten die Taxifahrer und die Spediteure sämtliche Brücken über die Donau, um gegen die Erhöhung der Benzinpreise zu protestieren. Sofort bildeten sich endlose Menschenschlangen vor den Bäckereien und die Regale der kleinen Geschäfte waren im nu leergeräumt. „Es ist wie 1956“ hörte ich auf dem Markt manche Leute sagen, womit gemeint war, dass wie damals das Brot fehlte. Im Grunde konnten die Menschen noch nicht recht glauben, dass das Schlimmste wirklich überstanden war.

Dass es hier um eine ganz „andere Geschichte“ ging, wurde für mich noch deutlicher, als ich mit dem Unterrichten begann. Es gab praktisch keine Geschichtsbücher, denn die vorhandenen brachten noch die von Moskau ideologisch gefärbte Version im Zeichen des Klassenkampfs. Auch musste ich meinen unwissenden Studenten Dinge beibringen, die für mich ganz selbstverständlich waren. Die eindeutigste Begebenheit habe ich in einer Schulstunde am Vorabend des Weihnachtsfestes 1990 erlebt. Um italienische Konversation zu üben, sprachen wir über die Weihnachtsbräuche in Italien. Natürlich erzählte ich mit Begeisterung von der Geburt Jesu und dessen Darstellung in den Krippen, die in diesen Tagen einen zentralen Platz in den italienischen Familien hatten. Ich redete sicher schon eine halbe Stunde, als ein brünettes Mädchen aus der hinteren Reihen sich zu Wort meldete: „Frau Lehrerin, wer ist dieser Jesus?“

Maria Bruna Romito

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