Immer weiter gen Osten

von | Sep 28, 2017

Rossiya mon Amour Moskau im Winter 1991. Es ist früher Nachmittag, als mein Flugzeug an jenem 12. Dezember auf dem nur spärlich beleuchteten Flughafen Sheremetevo landet. Ich habe Arbeit an der bekannten Lomonossow-Universität gefunden und ziehe mit all meinem Hab und Gut nach Russland um. Draußen ist es bereits stockdunkel, und irgendwie habe ich den […]

Rossiya mon Amour

Moskau im Winter 1991. Es ist früher Nachmittag, als mein Flugzeug an jenem 12. Dezember auf dem nur spärlich beleuchteten Flughafen Sheremetevo landet.

Ich habe Arbeit an der bekannten Lomonossow-Universität gefunden und ziehe mit all meinem Hab und Gut nach Russland um. Draußen ist es bereits stockdunkel, und irgendwie habe ich den Eindruck, dass hier die Welt nun endgültig zu Ende ist. Dann die Durchsagen: Anschlussflüge nach Novosibirsk und Krasnojarsk…. Da ahne ich: offensichtlich geht es hier erst richtig los.

Der Zauber des Beginns

Ich wohne in einer kleinen ökumenisch ausgerichteten Gemeinschaft in der Volocaevskaja-Strasse, in einem wie mir scheint finsteren Arbeiterviertel. „Keine Angst! Hier beschützt uns das Proletariat“, erklärt man mir auf meine Frage, warum wir nicht lieber – wie andere Ausländer – auf das komfortable Botschaftsgelände umsiedeln.

Der Kontakt mit unseren Nachbarn ist spontan: die alten Frauen im Hof, die genau wissen, wer wann wohin geht. Die kleinen Kinder, die mich im schmutzigen, muffig riechenden Treppenaufgang mit ihrer Spontanität die trostlose Umgebung vergessen lassen. Hier kommen auch unsere neuen Freunde gern zu Besuch, Kollegen und Studenten, Alte und Junge. Es stört sie nicht, dass in unserer möblierten Wohnung das Sofa von Mäusen angeknabbert wird, und dass das Wasserrohr im Flur leckt. Der Beginn unserer tiefen Freundschaft taucht alles in ein helles Licht und lässt Äußerlichkeiten  zunächst vergessen.

Die „geistlichen Kinder“ Alexander Mens

Zu Beginn der 1990er Jahre geht die gesamtwirtschaftliche Produktion in Russland noch weiter rapide zurück. Die Geschäfte sind leer, es fehlt an allem. Das religiöse Leben scheint längst erloschen. Hinter Kirchenmauern befinden sich eine Wodkafabrik, Büroräume, eine Druckerei…

Wir lernen den russisch-orthodoxen Priester Alexander Men kennen. Seit den 1960er Jahren tauft er im Untergrund Tausende von Menschen und zeigt eine für die Zeit nicht ungefährliche ökumenische Offenheit. Um ihn entsteht eine lebendige Gemeinde aufgeschlossener russisch-orthodoxer Christen. Als P. Alexander hinterrücks ermordet wird, lässt er seine „geistlichen Kinder“ als traumatisierte Waisen zurück.

„Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind“ (Mt 18,20)

Bald schließen sich viele von ihnen uns an. Wir beginnen, gemeinsam das Wort aus der Schrift zu leben, z.B. „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich unter ihnen“ (Mt 18,20). Wie sie selbst sagen, finden sie unter uns eine neue Heimat. „Ihr betreibt keinen „Proselytismus“, sondern helft uns, zu einem „Ferment“ einer sich erneuernden russisch-orthodoxen Kirche zu werden.“ Nach Jahrzehnten geistlicher Dürre erleben wir mit ihnen und vielen anderen einen neuen Frühling. Ich bin so glücklich wie nie zuvor. Der Durst nach einem gemeinschaftlichen geistlichen Leben führt uns, die wir so verschieden von Kultur, Erziehung und Mentalität sind, zusammen.

Meine Entdeckung

Mit Perestroika und Glasnost‘ kommen in den 1990er Jahren vermehrt Organisationen, Sekten, aber auch Hilfswerke der Kirchen (wie Renovabis, Kirche in Not, Bonifatiuswerk) und religiöse Bewegungen (z.B. Comunione e Liberazione, Neokatumenale, Fokolar, Comunità di S. Egidio) in die Länder hinter dem „Eisernen Vorhang“. Einige sind geblieben, viele sind wieder gegangen.

Meine persönliche Erfahrung als Westdeutsche nach fast zwei Jahrzehnten in Russland? Ich habe von diesem Land unendlich mehr empfangen als ich je werde geben können, u.a. die innere Sammlung während der reichen russisch-orthodoxen Liturgie, in der meine Beziehung zu Gott tiefer wurde, die festen Freundschaften, die auch auf Entfernung halten und die mir zeigen, dass ich geliebt werde. Ich habe ganz neu meine Berufung als Christin und als Frau entdeckt: berufen, um zu lieben. Wir haben in jenen Jahren, so denke ich, auf unsere Art die Apostelgeschichte neu geschrieben. Das „Seht, wie sie einander lieben und alles gemeinsam haben“ (vgl. Apg 4, 32) hat uns geprägt. Und so gesehen, das verstehe ich ganz neu, geht die Frohe Botschaft tatsächlich noch viel weiter… weit hinaus über Novosibirsk und Krasnojarsk.

Beatriz Lauenroth 

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