Einführung von Gérard Testard

Einführung von Gérard Testard

Die Europäische Union ist eine Organisation, die in der öffentlichen Meinung oft wenig geschätzt wird. Viele Politiker versäumen es nicht, sie zu kritisieren, häufig um von ihrer mangelhaften Innenpolitik abzulenken.

Die Europäische Union ist nicht frei von Mängeln (Übermaß an Standards, Komplexität, Technokratie, Distanz zu den Menschen, …).

Dank der Europäischen Union herrscht jedoch seit 70 Jahren weitgehend Friede in Europa. Robert Schuman ist einer der “Väter Europas”. Er hat am 9. Mai 1950 als Außenminister Frankreichs mit dem Aufbau Europas begonnen. Er war eine anerkannte Persönlichkeit, ein praktizierender Katholik mit einem tiefen geistlichen Leben und herausragenden moralischen Werten. Er wird als ein Mann der Vorsehung angesehen, der die deutsch-französische Aussöhnung bewirkte, der ein erbitterter Gegner von Rachsucht war, immer bereit, Position zu beziehen. Damit stand er vollends im Gegensatz zum Versailler Vertrag, der den Ersten Weltkrieg beendete.

Seine Familie stammte aus Lothringen, geboren wurde er in Luxemburg und aufgewachsen ist er in Deutschland. Er war immer mit Frankreich verbunden, definierte sich selbst als “Grenzgänger” und hatte eine Vision für Europa. Um sein europäisches Ideal zu definieren, schrieb er am Ende seines Lebens ein kleines Buch mit dem Titel “Für Europa”, in dem er seine Reden zusammenfasste. Es wurde im Jahr seines Todes 1963 veröffentlicht. Er beschreibt darin das europäische Projekt, seine Vision von der Demokratie.

Zitate von Robert Schumann

Aus der Rede vom 9. Mai 1950: “Europa gab es noch nicht, wir waren im Krieg. Europa wird weder auf einen Schlag noch in einer Gesamtkonstruktion entstehen: Es wird durch konkrete Werke geschaffen, denen zunächst eine reale Solidarität vorausgeht.”

Alle folgenden, wesentlichen Zitate stammen aus dem Buch “Für Europa”:

“Der Beitrag, den ein organisiertes und lebendiges Europa für die Zivilisation leisten kann, ist unverzichtbar für die Aufrechterhaltung friedlicher Beziehungen.”

“Bevor Europa eine militärische Allianz oder eine wirtschaftliche Einheit ist, muss es eine kulturelle Gemeinschaft im höchsten Sinn des Wortes sein.”

“Die politische Einheit Europas bedeutet nicht die Auflösung der Nation.”

“Wer sich nicht traut, das Schlechte anzugreifen, kann nur unzureichend verteidigen, was schön ist.”

“Die Demokratie verdankt ihre Existenz dem Christentum. Sie entstand an dem Tag, als der Mensch berufen wurde, in seinem zeitlichen Leben die Würde der menschlichen Person zu realisieren, in der Freiheit des Einzelnen, in der Achtung der Rechte eines jeden und durch die Verwirklichung der geschwisterlichen Liebe zu allen Menschen. In der Zeit vor Christus wurden niemals solche Ideen formuliert.”

“Haben wir bis jetzt etwas falsch gemacht? Das Ergebnis wird in hohem Maß von der Haltung der Menschen abhängen, die wir vor uns haben, vom Grad ihrer Aufrichtigkeit, dem Verständnis, das wir von ihnen und ihren Nachfolgern erwarten können.”

“Die Idee eines versöhnten, vereinten und starken Europas muss die Losung der jüngeren Generationen sein.”

“Europa wird seine Seele in der Vielfalt seiner Vorzüge und Bestrebungen formen. Die Einheit der grundlegenden Entwürfe wird in Einklang gebracht mit der Pluralität der Traditionen und Überzeugungen, mit der Verantwortung persönlicher Entscheidungen. Das heutige Europa muss aus einer Koexistenz bestehen, die nicht nur eine Ansammlung rivalisierender, zeitweise feindlicher Nationen ist, sondern eine Aktionsgemeinschaft, die untereinander in Freiheit abgestimmt und organisiert ist.”

“Grenzen werden weiterhin ihre Berechtigung haben, wenn man ihre Funktionen auf eine geistliche Ebene zu übertragen weiß. Anstelle von Hindernissen müssen sie zu Kontaktlinien werden, an denen der materielle und kulturelle Austausch organisiert und intensiviert wird.”

Schumann zu seiner Deklaration vom 9. Mai 1950: “Ich habe sie verkündet, weil ich an die christlichen Grundlagen Europas glaube”.

von Gérard Testard

Miteinander für ein offenes und menschenfreundliches Europa

Miteinander für ein offenes und menschenfreundliches Europa

Als das Miteinander für Europa am 31. Oktober 1999 ins Leben gerufen wurde, dem Tag der Unterzeichnung der gemeinsamen Erklärung über die Rechtfertigungslehre, herrschte ein hoffnungsvolles Klima.

Ein wichtiges Zeichen der Einheit nach fast 500 Jahren der Trennung wurde gesetzt. Verschiedene geistliche Gemeinschaften und Bewegungen aus evangelischen und der katholischen Kirche trafen sich im ökumenischen Lebenszentrum in Ottmaring, um zu überlegen, wie diese grundlegende Erklärung rezipiert werden könne. Diese Erklärung musste sich auch im Alltag auswirken und durfte nicht nur ein Text bleiben. Karl Barth sprach davon, dass der Christ in der einen Hand die Bibel und in der anderen die Zeitung tragen müsse.

Die Christen hatten in den Jahrhunderten seit der Reformation Martin Luthers und anderer Reformatoren durch ihre Spaltungen und Streitigkeiten immer wieder schwerwiegende Konflikte ausgelöst oder konnten dadurch ihre Mission als Werkzeug der Einheit und des Friedens nur unzureichend erfüllen. Die Spaltungen waren ein trauriges Zeichen der Schwäche angesichts dramatischer Entwicklungen, deren Höhepunkte im 20. Jahrhunderts mit den beiden Weltkriegen und dem Abgrund der Shoah erreicht wurden.

Trotzdem waren Christen immer wieder glaubwürdige Zeugen. Johannes Paul II. sprach in der Ankündigung des Jubiläums des Jahres 2000 davon, dass die Kirche unserer Zeit wieder und wie niemals zuvor zu einer Kirche der Märtyrer geworden ist. Das sei, so der polnische Papst, der die Unterdrückung der Kirche in seiner Biographie selbst erlebt hatte, ein ökumenisches Phänomen gewesen. Nicht nur weil es alle Konfessionen betrifft, sondern auch weil die Christen bei den Verfolgungen in den Gulags und Konzentrationslagern schon eine Einheit im Leiden gelebt haben, die wir noch aufbauen müssen. Andrea Riccardi hat diese Geschichte eindrucksvoll in seinem Buch „Salz der Erde, Licht der Welt“ dargestellt.

Mit dem historischen Ereignis der gemeinsamen Erklärung musste eine neue Geschichte der Einheit und der Zusammenarbeit beginnen. Nach so vielen von Europa ausgegangenen Spaltungen und so viel Gewalt, wollten die Bewegungen mithelfen, ein Europa aufzubauen, das zum Frieden, zur Gastfreundschaft und zu einer Offenheit beiträgt. Die Globalisierung hat eine Einheit der Ökonomie, des Geldes, der Kommunikation herbeigeführt, allerdings fehlt die Seele, es fehlt die Einheit der Völker und Kulturen in einem friedlichen und offenen Zusammenleben. Hier haben die Bewegungen eine Berufung erkannt, eine zweite Berufung zur eigenen des jeweiligen Charismas.

In der nun fast 20jährigen Geschichte des Miteinanders haben wir verschiedene Phasen erlebt. Es gab die Zeit der Euphorie mit der Währungsunion und der Osterweiterung des Jahres 2004, die beim ersten großen Kongress in Stuttgart spürbar war. Die Bewegungen wollten den Prozess der europäischen Einigung stärken und unterstützen. Denn nach den Überzeugungen der christlich geprägten Gründerväter der europäischen Einigung, die 2017 das 60jährige Jubiläum der Römischen Verträge feiern konnte, braucht dieser Prozess eine spirituelle Grundlage. Europa braucht eine Seele, so haben wir wiederholt betont.

Heute hat sich Skepsis gegenüber Europa ausgebreitet. Es gibt besorgniserregende Tendenzen der Abschottung, Mauern werden gebaut, Europa wird zu einer Festung, die ausgrenzt und abweist. Eine diffuse Angst zeigt sich in allen europäischen Gesellschaften und ergreift auch die Christen. Diese gefährliche Angst führt zu neuen, ausgrenzenden Nationalismen, zu Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus bis hin zu rechtsextremen und faschistischen Bewegungen, die zunehmend Einfluss nehmen in der Politik Europas.

Daher stellt sich in dieser Zeit mit neuer Dringlichkeit die Frage unserer Berufung im Miteinander. Während das Gegeneinander zunimmt, müssen die Christen und auch die christlichen Bewegungen das Miteinander vertiefen. Unser Weg ist immer von Gastfreundschaft und Offenheit geprägt gewesen. Die Einheit wird nur möglich durch Offenheit, gegenseitiges Kennenlernen und Aufnahme des anderen. Gerade in dieser historischen Phase wird die Kühnheit und Prophetie der Christen benötigt. Denn die aktuellen Tendenzen in unseren europäischen Gesellschaften sind gefährlich und fördern die Gewalt. Darunter leiden vor allem die Armen, die Flüchtlinge, die Fremden und alle, die am Rande leben.

Der Europatag am 9. Mai kann ein günstiger Augenblick sein, um auf die Schönheit und Bereicherung der Einheit hinzuweisen. Wir können deutlich machen, dass Vielfalt, Offenheit, Gastfreundschaft und Aufnahme des Fremden keine Gefahr sind, sondern eine Bereicherung für alle darstellen. Aus den Quellen des Evangeliums entstanden vielfältige Bewegungen mit eigenen Geschichten, Berufungen und Charismen. Doch das nimmt niemanden etwas, im Gegenteil, in der Begegnung haben wir uns gegenseitig bereichert und unser eigenes Charisma vertieft. Diese Erfahrung wird heute noch mehr gebraucht als vor 18 Jahren, als in Ottmaring unser gemeinsamer Weg begann.

Pfr. Matthias Leineweber

 

Was uns kennzeichnet

Was uns kennzeichnet

Chiara Lubich, eine der Initiatorinnen des Netzwerkes Miteinander für Europa, hat bei verschiedenen Gelegenheiten über die Gemeinschaft zwischen Bewegungen und Gemeinschaften der verschiedenen Kirchen gesprochen. Ein Auszug aus ihrer Rede am 8.Dezember 2001 in München vor Verantwortlichen verschiedener katholischer und evangelischer Bewegungen kann zum Verständnis beitragen.

Fragen wir uns zunächst: Sind die Bewegungen, wie wir sie jetzt in den verschiedenen Kirchen sehen, sozusagen Erfindungen des Heiligen Geistes nur für diese Zeit? Die Antwort ist eindeutig: Nein. Seit den Anfängen des Christentums hat es immer wieder Gemeinschaften gegeben. Werfen wir nur einen Blick auf unsere gemeinsame Geschichte im ersten Jahrtausend. Schon damals finden wir Spuren ihres Wirkens. Den Grund dafür kennen wir. Das Christentum ist durch die Menschen in der Welt gegenwärtig, die ihren Glauben und aus dem Wort Gottes leben.

Die ersten Christen zum Beispiel haben ihren Glauben ganz authentisch gelebt. Aber uns ist auch bewusst, dass im Laufe der Jahrhunderte durch den Einfluss der Gesellschaft nicht alle Getauften ihren Glauben konsequent gelebt haben. So verlor das Christentum viel von seiner Kraft und Ausstrahlung. Doch da es nicht untergehen wird – denken wir nur an die Zusage Jesu, die sich bei Matthäus (16,18) findet: „Die Mächte der Unterwelt werde sie (meine Kirche)  nicht überwältigen“ – erweckte der Heilige Geist neue geistliche Strömungen in der Kirche, bedeutende Bewegungen wie die von Basilius, Augustinus oder Benedikt, um nur einige zu nennen. Vielen anderen, unter  ihnen Franz von Assisi, kam dann im zweiten Jahrtausend die Aufgabe zu, die ursprüngliche Kraft und Radikalität des Evangeliums wieder aufstrahlen zu lassen und so die Kirche zu erneuern.

Aus diesem Grund hat der Heilige Geist auch in der heutigen Zeit die modernen Bewegungen ins Leben gerufen. (…) Unter vielen dieser Bewegungen ist eine immer tiefere Gemeinschaft entstanden.

Diese Gemeinschaft haben wir folgendermaßen zu leben begonnen: Wir beteten füreinander, ermutigten uns in den Schwierigkeiten und trugen dafür Sorge, dass auch unsere jeweiligen Leitungsgremien einander kennen lernten. Gerade auch in praktischen Dingen – wie der Bereitstellung von Quartieren und Tagungsräumen oder technischer Ausstattung – helfen wir einander. Gelegentlich nehmen wir auch an Veranstaltungen der anderen Bewegungen teil oder bieten unsere Mitarbeit an. In unseren Publikationen stellen wir die anderen Bewegungen vor, um nur einiges zu nennen. (…)

Doch jetzt stellt sich die Frage, wie wir, schwache und immer wieder scheiternde Menschen, diesem Vorhaben Gottes entsprechen können, der seine Kirche als eine lebendige, ständig wachsende Gemeinschaft erfahren lässt? Es ist offensichtlich: Damit diese Gemeinschaft entstehen kann, wäre es schon ausreichend, das neue Gebot Jesu in die Tat umzusetzen. (…)

Uns steht immer das Wort aus der Schrift (Röm 8,35) vor Augen, wenn wir uns begegnen: „Wer kann uns trennen von der Liebe Christi“, wenn er uns so miteinander verbunden hat? Durch dieses Leben der Gemeinschaft, das zum Zeugnis in und für die Welt wird, gewinnt der Name Gottes  seine Aktualität zurück, indem er widerhallt auf unseren Straßen, in unseren Häusern, den Schulen, an unseren Arbeitsplätzen, im öffentlichen Raum, wo das Leben oft im Materialismus und verschiedenen säkularen Tendenzen gleichsam erstarrt ist. Vor allem an den Orten, wo die Kirche mit ihren Mitteln keinen Zugang hat, sind unsere Bewegungen oft präsent. Denn gerade dazu hat uns der Heilige Geist in besonderer Weise berufen und befähigt. (…)

Was uns vor der Welt von anderen unterscheiden müsste, ist nicht so sehr unser Gebet, die Buße, die Zeremonien, das Fasten, die Andachten,  … , sondern die gegenseitige Liebe, die Einheit unter uns. Jesus hat es gesagt:“ Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt.“ (Joh 13, 35) Also daran, und an nichts anderem. Und: „Alle sollen eins sein, damit die Welt glaubt.“ (Joh 17,21).