Europa – ein „revolutionäres Projekt“

Europa – ein „revolutionäres Projekt“

Ein kurzer Beitrag aus der geschichtlichen Perspektive zu den religiösen Wurzeln Europas und dessen Schwierigkeiten

„Nicht nur Bücher, auch Begriffe haben ihre Schicksale.“ Mit diesen Worten beginnt die umfängliche Geschichte des Westens, die der Historiker Heinrich August Winkler im Jahr 2009 publiziert hat. Auch wenn Winker hier die Spezifika des „Westens“ entfaltet, gibt er doch gleichzeitig auch Elemente vor, die dem Nachdenken über Europa dienen, denn: Dass sich Begriffe und Bedeutungen verschieben, kann tröstlich, bedrohlich oder sogar ein Signum der Hoffnung sein; so auch und gerade in Europa. Es lohnt sich also ein intensiver Blick auf seine Gedanken.

So ergeben sich grundsätzliche Beobachtungen auch zu Europa, in denen Winkler zu folgen ist: Erstens ist demnach die stärkste gemeinsame Prägung Europas immer noch religiöser Natur. Dieser Befund mag überraschen angesichts laizistischer und säkularer Entwicklungen, aber Säkularisierung in diesem Umfang kann nur als Reaktion auf eine wirkmächtige religiöse Prägung verstanden werden, in die bereits seit ihren Anfängen die Unterscheidung nach göttlicher und weltlicher Ordnung eingeschrieben war. Dieses historische Fundament bildet die Wurzeln Europas, auch wenn die europäische Religionsgeschichte deshalb auch und gerade eine Trennungsgeschichte ist.

Zweitens ist Europa nie einen linearen Weg des Fortschritts gegangen. Europa ist keine kontinuierliche Erfolgsgeschichte, sondern eine Geschichte der Brüche, der Zerstörung, der Neuanfänge und des immer wiederkehrenden Traumes einer gemeinsamen Wertegemeinschaft. Zudem ist diese Gemeinschaft erst in „transatlantischer Zusammenarbeit“ entstanden, wie Winkler es nennt, denn: ohne Declaration of Rights von 1776 keine Erklärung von Menschen- und Bürgerrechten. Die Perspektive ist also breit.

Doch drittens gehört zu Europa ebenso der „Widerspruch zwischen dem normativen Projekt und der politischen Praxis“ (Winkler, 21) und damit die Ungleichzeitigkeit in der Verwirklichung seines revolutionären Projekts: die Freiheit und Gleichheit aller Menschen. Auch heute ist dies in letzter Instanz immer noch ein Ideal.

Was also ist die Konsequenz? Die Konsequenz ist, entweder das revolutionäre Projekt von Freiheit und Gleichheit aufzugeben – oder sich noch intensiver an dessen Grundlinien zu halten. In der Spur von Winkler kann Europa demnach „für die Verbreitung seiner Werte nichts Besseres tun, als sich selbst an sie zu halten und selbstkritisch mit seiner Geschichte umzugehen, die auf weite Strecken eine Geschichte von Verstößen gegen die eigenen Ideale war“ (Winkler, 24) und auch immer noch ist. Das heißt auch: ad fontes! Wo sind die Wurzeln dieses Traumes, dieses revolutionären Projektes – und wie kann daraus heute gelebt werden? Und: Kann es sein, dass geistlichen Gemeinschaften und Bewegungen hier eine besondere Aufgabe zukommt?

Sr. Nicole Grochowina

 

Eine Perspektive aus Deutschland

Eine Perspektive aus Deutschland

60 Jahre „Römische Verträge“ – 24/25. März 2017

„Im festen Willen, die Grundlagen für einen immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker zu schaffen; entschlossen, durch gemeinsames Handeln den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt ihrer Länder zu sichern, indem sie die Europa trennenden Schranken beseitigen; (…) entschlossen, durch diesen Zusammenschluss (…) Frieden und Freiheit zu wahren und zu festigen“, haben am 25. März 1957 sechs europäische Länder (Deutschland, Frankreich, Italien, Benelux-Staaten) beschlossen, die „Europäische Wirtschaftsgemeinschaft“ zu gründen und diese auf die Grundlage von Frieden, Versöhnung und Zusammenarbeit zu stellen, wie es zu Beginn des Vertrages heißt. Zugleich wurden auch alle anderen europäischen Nationen eingeladen, „sich diesen Bestrebungen anzuschließen“.

Die Gründung der „Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“ war weit mehr als die Suche nach wirtschaftlichen Vorteilen, denn: Der französische Außenminister Robert Schuman (1886-1963) hatte schon zu Beginn der 1950er Jahre deutlich gemacht, dass der Frieden in Europa nur dann hinreichend gesichert werden könne, wenn es gelinge, kriegswichtige Güter wie Kohle oder Stahl gemeinsam zu kontrollieren. Und mehr noch: Dass Deutschland nur 12 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg hier als gleichwertiger Partner eines Vertrages akzeptiert wurde, war ein entscheidender Schritt zur Versöhnung auf dem europäischen Kontinent, die maßgeblich durch die Versöhnung zwischen Frankreich und Deutschland geprägt wurde.

Seit 1992 steht die Europäische Union für die politische Einheit des Kontinents. Doch dies ist ohne den in Rom unterzeichneten Vertrag über die „Europäische Wirtschaftsgemeinschaft“ (deswegen: „Römische Verträge“) nicht denkbar. Und so ist dieser Vertrag als Geburtsurkunde eines geeinten Europas zu verstehen, auch wenn er sich im Detail mit Ein- und Ausfuhrbestimmungen, Umgang mit Zöllen, Schiedsgerichten, Ausrichtung der Wirtschaftspolitik, Bewegungsfreiheit von Waren und der Einrichtung von Ausschüssen befasst. Wichtig ist die Intention, mit der er geschlossen wurde – und die ist in der Präambel klar benannt: ein Zusammenschluss, um Schranken zu beseitigen, Frieden und Freiheit zu wahren, Fortschritt zu fördern und so die Lebensbedingungen der Menschen in Europa zu verbessern – und dies in Zusammenarbeit mit dem ehemaligen Kriegsgegner Deutschland, das nun ein gleichberechtigtes Mitglied in der Wirtschaftsgemeinschaft wurde.

 

 

von PD Dr. Schwester Nicole Grochowina, Christusbruderschaft Selbitz, Historikerin, Mitglied des Europäisches Leitungskomitees von Miteinander für Europa und Mitglied des Ökumene-Fachausschusses der bayerischen Landeskirche