Europa im „Zeitalter der Angst“

Europa im „Zeitalter der Angst“

Es gilt, immer mehr in eine «Kultur des Vertrauens», eines eben auch welthaften Gott-Vertrauens hineinzuwachsen. 

Der Beitrag von Herbert Lauenroth am Mitarbeiter-Kongress von „Miteinander für Europa – München 2016″ ist noch immer höchst aktuell. Hier der volle Wortlaut. 

Liebe Freunde!

Beginnen möchte ich meine – eher grundsätzlich gehaltenen – Überlegungen zum Thema der Angst, der Angst in Europa mit zwei eindringlichen Bildern biblischer bzw. säkularer Prägung:

(1) Im Buch Genesis ruft Gott nach dem Menschen – in einem dramatischen Augenblick: „Wo bist Du, Adam?“ – Der Ruf geht an den, der sich – schamerfüllt und angstgetrieben – in das Unterholz geflüchtet hat, der sich vor dem Anblick Gottes verbirgt, weil er sich seiner existenziellen Nacktheit und Armseligkeit bewusst geworden ist. Das Bild beschreibt unsere gegenwärtige Situation in Europa recht drastisch: Unser Kontinent verbarrikadiert sich, verschanzt sich in seiner ausweglos erscheinenden Gegenwart. Europa steckt also in diesem Unterholz, diesen Verstrickungen in die eigenen Begrenzungen und Schuldgeschichten. Dieses Unterholz ist Idomeni, die mazedonische Grenze, der stacheldrahtbewehrte Zaun an der ungarisch-serbischen Grenze, es steht aber auch für die vielfältigen Aus-Grenzungen in unserer Gesellschaft.

Liest man nun das biblische Szenarium im Blick auf den Ausbau Europas zur „Festung“ – als Maßnahme gegen die Migranten, dann gewinnt das Bild noch einmal eine andere Lesart: Dann steht hier nämlich der europäische Souverän vor uns: als der eigentlich Unbehauste, Heimatlose, Flüchtende, der auf der fatalsten aller Fluchten ist: der vor sich selbst. Europa muss also neu diesen Anruf des biblischen Gottes vernehmen: als Frage nach der Bestimmung, der Sendung und Verantwortung für sich und die Welt: „Adam/Europa, wo bist Du?“

(2) Dieses Bild einer existenziellen Enge, aus der Gott herausruft, findet seine Entsprechung in den Visionen einer kosmischen Verlorenheit des Menschen in einem indifferenten, ungastlichen Universum. Dem hat der Philosoph und Mathematiker Blaise Pascal Ausdruck verliehen: „Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume macht mich schaudern!“.  Es geht hier um ein Entsetzt- oder Ausgesetzt-Sein, das den auf sich zurückgeworfenen, isolierten Menschen ängstigt – und leitmotivisch in der Geschichte Europas als „Verlust der Mitte“ oder „metaphysische Obdachlosigkeit“ beschrieben worden ist.

(3) Diese Angst vor Selbst- und Weltverlust kann aber zugleich auch einen neuen Erfahrungs-Raum erschließen:

* Der tschechische Dichter und Staatspräsident Vaclav Havel hat seinerzeit – im Rückblick auf die friedlichen Revolutionen in Ostmitteleuropa in den Jahren 1989/90 – von der ANGST als „ANGST VOR DER FREIHEIT“ gesprochen: Wir waren wie Gefangene, die sich an das Gefängnis gewöhnt hatten, und dann, aus heiterem Himmel in die ersehnte Freiheit entlassen, nicht wussten, wie sie mit ihr umgehen sollten und verzweifelt waren, weil sie sich ständig selbst entscheiden und Verantwortung für ihr eigenes Leben übernehmen mussten. Es gilt, so Havel, sich dieser Angst zu stellen. Denn so kann sie in uns schließlich auch neue Fähigkeiten wecken: Angst vor der Freiheit kann genau das sein, was uns schließlich lehrt, unsere Freiheit wirklich richtig auszufüllen. Und Angst vor der Zukunft kann genau das sein, was uns zwingt, alles dafür zu tun, dass die Zukunft besser wird.  

* Der große protestantische Theologe Paul Tillich schließlich verortet die Angst als grundlegende Erfahrung menschlicher Existenz:  Der Mut zum Sein, schreibt er, wurzelt in dem Gott, der erscheint, wenn Gott in der Angst des Zweifels verschwunden ist. Das bedeutet: Erst die Erfahrung der Angst – als Verlust eines vormals prägenden und für unveränderlich gehaltenen Gottes-, Menschen und Welt-Bildes – setzt das frei, was hier „Mut zum Sein“ genannt wird. Der wahre – göttliche – Gott erscheint gewissermaßen im Herzen der Angst, und Er allein bewirkt Ent-Ängstigung. Und diese Erfahrung wiederum führt den Menschen zu den tieferen Erfahrungshorizonten des Seins. Gott offenbart sich in der vermeintlichen Gesichts- und Geschichtslosigkeit der Welt als Antlitz des Anderen.

(4) Es gilt also, in diese „Weltinnenräume“ biografischer wie kollektiver Ängste und Verlust­erfahrungen hinabzusteigen, um dort jenem Gott zu begegnen, der uns rettet. Zwei Beispiele:

(4.1) Yad Vashem: Mein Besuch im vergangenen Herbst in der Erinnerungsstätte an die Shoah ist mir unvergeßlich: Ich gehe wie benommen durch diese labyrinthisch anmutende Architektur und gelange schließlich zum „Denkmal für Kinder“, einem unterirdisch angelegten Raum, in dem das Licht brennender Kerzen durch Spiegel reflektiert wird. In diesem dunklen Resonanzraum körperloser Stimmen, die unablässig die elementaren Lebens-Daten der unschuldigen Opfer in Erinnerung rufen, empfinde ich eine neue, tiefe Solidarität  – gerade im Blick auf diese tiefsitzende Ur-Angst, nicht nur physisch vernichtet, sondern überhaupt aus dem kulturellen Gedächtnis gelöscht zu werden. Das Zeugnis dieses Ortes wird mir zur eigenen Erfahrung: Dem verlorenen Namen einen Ort geben, dem Namen Gottes und seiner Geschöpfe eine Erinnerung bewahren. Mein Eintrag ins Gästebuch ist ein Satz des Propheten Jesaja und bringt sowohl meine Verstörung als auch die neue Hoffnung auf die unverlierbare Nähe eines väterlichen Gottes zum Ausdruck: „Fürchte Dich nicht, denn ich habe Dich erlöst. Ich habe Dich mit Deinem Namen gerufen, Du bist mein!“

(4.2) Und im Blick auf die Großen europäischen Erzählungen der Angst beschreibt der tschechische Philosoph und Theologe Tomás Hálik eine ähnliche Erfahrung: „Das kühne Projekt der europäischen Einheit errichten wir nicht auf unbekanntem Boden oder Brachland. Wir bauen es auf einem Boden, in dessen Schichten vergessene Schätze und verbrannte Trümmer lagern, wo Götter, Helden und Verbrecher begraben sind, verrostete Gedanken und nicht explodierte Bomben liegen. Wir müssen uns von Zeit zu Zeit aufmachen und in die Tiefen Europas blicken, in die Unterwelt, wie Orpheus zu Eurydike oder der getötete Christus zu Abraham und den Vätern aus dem Alten Testament.“

(5) Für mich bündeln sich diese verschiedenen „Abstiege in die Abgründe der Angst“ in der Schilderung der Taufe Jesu bei Matthäus:

Als aber Jesus getauft war, stieg er sogleich aus dem Wasser herauf; und siehe, die Himmel wurden ihm aufgetan, und er sah den Geist Gottes wie eine Taube herniederfahren und auf ihn kommen. Und siehe, eine Stimme ergeht aus den Himmeln, die spricht: Dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen gefunden habe.“ Mit Christus absteigen, um an jenen Nullpunkt zu gelangen, über dem sich dann ganz überraschend der Himmel öffnet. Und hier zeigt sich Gottes Lebensgesetz: „Was von oben kommt, muss von unten wachsen.“ So entsteht in, mit und durch Jesus jene „geschwisterlich“ geprägte Solidargemeinschaft, in der sich die einzelnen nicht nur als „Schwestern und Brüder“, sondern auch als „Söhne und Töchter Gottes“ erkennen, in der also „Menschenwürde“ und „Gottebenbildlichkeit“ eine untrennbare Einheit bilden.

(6) In seinen Aufzeichnungen aus der Haft „Widerstand und Ergebung“ sieht Dietrich Bonhoeffer den Kern der christlichen Identität als Antwort an die Anfrage Jesu im Moment seiner Todesangst in Gethsemane: „Könnt Ihr nicht eine Stunde mit mir wachen?“ –   Es ist die Einladung zur Nachtwache an der Seite Jesu, seiner dem Vater zugewandten Gegenwart in einer säkularen  – vermeintlich gott-losen – Welt, und diese Gegenwart Jesu verwandelt unterschiedlichste Orte in Erfahrungs- und Erwartungs-Räume trinitarischen Lebens.

(7) Die „Angst“ erscheint in dieser Schlüsselstelle des Lukas-Evangeliums als privilegierter Lernort des Glaubens, an dem sich unsere diffusen, „blinden“ Ängste, bündeln und zur authentischen und erkenntnisstiftenden „Gottes-Furcht“ Jesu wandeln.

Denn:

  • In, mit, durch Jesus: ereignet sich die Ent- als echte Durch-Ängstigung des Menschen auf Gott hin: Die vermeintliche Preisgabe des Sohnes wandelt sich zur Hingabe an den Vater.
  • Einheit wächst als Erfahrung wechselseitigen Vertrauens aus der Sensibilität für das unverfügbare Geheimnis Gottes, der Alterität des anderen; die jüdische Philosophin Simone Weil hat für diese Erfahrung eine markante Formulierung gefunden: erst das vorbehaltlose „Einwilligen in die Distanz des anderen“  – so die franz. Philosophin Simone Weil – ermöglicht authentische Nähe und Gemeinschaft mit Gott und den Menschen.
  • Und also geht es darum: Das Unbekannte, Fremde, Randständige bevorzugen –  als „Lernort“ des Glaubens – in, mit, durch Jesus.
  • Das gilt gerade auch für die verschiedenen Charismen und die Gemeinschaft unter ihnen: Bei einer Begegnung des „MfE“ im November 2013 mit Jean Vanier, dem Gründer der „Arche“, in Paris wurde uns deutlich: Eigentlich besteht die Aufgabe der Charismen auch darin, das „Charisma der Welt“ zu empfangen und eben dieser Welt zu spiegeln; Vaniers Zeugnis hat uns sehr beeindruckt: nicht in erster Linie mit und für die „Adressaten“ der Seligpreisungen Jesu zu leben, sondern von ihnen her. Sie, die vermeintlich Bedürftigen und Empfangenden, sind die eigentlich Gott-Begabten und Gebenden, die Träger einer Botschaft, einer Gegen­wart Gottes, die von den Rändern wieder in die Mitte unserer Gesellschaften gelangen muss.  Der Aachener Bischof und Religionsphilosoph Klaus Hemmerle formulierte prägnant: „Lass mich an Dir die Botschaft lernen, die ich Dir zu überbringen habe“.

(8) Diese Haltung aber verlangt eine „Schubumkehr“, eine echte Metánoia im Selbst- und Weltverständnis so mancher Christen, einen neuen Glauben an die in Christus geoffenbarte Liebe Gottes zur Welt. Dabei gilt es, immer mehr in eine „Kultur des Vertrauens“, ja eines eben auch welthaften Gott-Vertrauens hineinzuwachsen, das in Jesus grundgelegt ist.

(9) Der Blick hinauf in die Kuppel des Circus-Krone-Bau lässt uns vielleicht an die Trapezkünstler denken – für mich die wahren Artisten der Ent-Ängstigung: immer im Wagnis des Vertrauens, des Loslassens und sich erneut Ausstreckens im Raum des Zukünftigen, als „Springer in der Schwebe“ (H.Nouwen). Artistischer Augen-Blick in jenem prophetischen und immer auch prekären, riskanten Zwischen von „Gnade und Schwerkraft“: als Anmut des Schwere-Losen, in der sich das Geschöpf doch immer gehalten und unterfangen, in gewisser Weise von sich „erlöst“ und zum anderen hin befreit weiß:

Ein Springer muss springen, und ein Fänger muss fangen, und der Springer muss mit ausgestreckten Armen und offenen Händen darauf vertrauen, dass der Fänger da sein wird. … Denke daran, dass du Gottes geliebtes Kind bist. Er wird da sein, wenn Du Deinen langen Sprung machst. Versuche nicht, nach ihm zu greifen. Er wird nach Dir greifen. Strecke einfach Deine Arme und Hände aus – und vertraue, vertraue, vertraue!“  (H. Nouwen)                                                                                                     

Herbert Lauenroth (Ökumenisches Lebenszentrum Ottmaring bei Augsburg), München, Circus-Krone-Bau, 01.07.2016 

Foto: Trapezkünstler ©Thierry Bissat (MfG); H. Lauenroth: ©Ursula Haaf

Junge Menschen lieben das Konkrete

Junge Menschen lieben das Konkrete

Hat Europa eine Zukunft? Welchen Beitrag seht ihr etwa von Seiten der Kirchen und der christlichen Bewegungen und Gemeinschaften?

Sicher hat Europa eine Zukunft! Und darin spielen die Gemeinschaften und die Kirchen einzeln und gemeinsam eine wichtige Rolle, indem sie die Zivilgesellschaft stärken. Diese wird die künftigen führenden Politiker hervorbringen und in der Zwischenzeit stärkt und fördert sie das bürgerliche Engagement. „Der grösste Schaden wird von jenen Millionen von Menschen verursacht, die einfach ‚überleben‘ wollen.“  Deshalb sind die Gemeinschaften von Bedeutung, denn sie leben und entwickeln ihre je eigenen Gaben (wie etwa Ordnung, Freiheit, Gehorsam, Verantwortung, Gleichheit, Hierarchie, Achtung, Berichtigung, Privateigentum, Kollektiveigentum, Wahrheit usw.) und machen darauf aufmerksam.

Am 9. Mai feiern wir den „Europatag“. Was löst dieses Datum in euch aus? Wie würdet ihr euch wünschen, dass die Europäer diesen Tag feiern?

Die Wahl des Datums wie auch die Initiative selbst ist gut und notwendig. Die Frage stellt sich über das „Wie“. Man müsste einen Europatag konzipieren in dem – neben den interdisziplinären Konferenzen der verschiedenen wissenschaftlichen Bereiche – auch die ganze Gesellschaft einbezogen werden könnte. Keine offiziellen Festivitäten, sondern beispielsweise „Massenkundgebungen“, ähnlich dem Projekt mit den Kulturhauptstädten. Die Erfahrung zeigt, dass es immer die Politik ist, die offizielle Feierlichkeiten organisiert. Aber diese Nutzung zu eigenen Zwecken hält  die Menschen von solchen offiziellen Anlässen fern.

Wenn du Präsident/in der Europäischen Kommission wärst (d.h. wenn du eine verantwortliche Funktion mit Entscheidungsbefugnissen innehättest), welche Prioritäten, um die Gemeinschaft unter den europäischen Völker zu erhalten und zu fördern, stünden in der Agenda?

Keine Uniformität anstreben, sondern vielmehr auf der Grundlage der gegenseitigen Anerkennung der Identität und der Solidarität die Integration fördern, stärken und beschleunigen. Es liegt auf der Hand, dass dieses schwache föderative System nicht funktioniert. Ein Beispiel sind die USA, wo man vergeblich eine gemeinsame Sprache spricht und man freiere Foren durch zentralistische verdrängt hat. Internationale Projekte wie etwa ERASMUS weiterführen und auf Forscher und Dozenten an Universitäten erweitern, aber mit der Zeit auch auf Erzieher und Lehrer der unteren Stufen. Unabhängig von der Studienrichtung müsste für alle Studierenden ein obligatorischer Semesteraufenthalt im Ausland eingeführt werden. Interuniversitäre Kurse zwischen benachbarten Ländern müssten regelmässig stattfinden (z.B. in Form von Sommer-Universitäten).

Wie seht ihr Europa im Kontext der aktuellen Weltpolitik?

Europa steht vor zwei wesentliche Herausforderungen. 1. Die Frage der Einheit: Wenn es Europa nicht gelingt die Einheit zu festigen und ihr Ausdruck zu verleihen, wird es an Gewicht einbüssen (siehe 2. Herausforderung). 2. Die Korruption: Jeder auch noch so kleine wirtschaftliche, moralische oder sexuelle Missbrauch kann der internationalen Gemeinschaft grossen Schaden zufügen, unabhängig davon, ob von einer öffentlichen oder privaten Instanz verübt. Dies kann nur und vor allem durch eine beständige und gemeinsame Gewissensprüfung (Reflexion) verhindert werden.

Es scheint, dass junge Menschen sich wenig Gedanken über die Zukunft Europas machen. Ist das so?

Junge Menschen lieben das Konkrete. Nicht-Greifbares interessiert sie nicht. Man müsste z.B. die Anzahl der Studenten im ERASMUS-Programm erhöhen und mehr in Auslandstudienprogramme investieren, damit sich die Jugend besser kennenlernen kann. Zudem bräuchte es konkrete europäische Ziele, an die sie glauben und wofür sie sich begeistern könnten.

Wie denkt ihr über die populistischen Tendenzen? Könnte es in einem MITEINANDER nicht besser gehen? Aber wie?

Erstens sind sie die Konsequenz der letzten Wirtschaftskrise; zweitens auch der verschiedenen bewaffneten Konflikte und Auseinandersetzungen (beispielsweise durch fremde Einmischungen); drittens sind sie durch den Nationalismus verursacht, der eine Frucht der oben erwähnten Realität ist; eines Nationalismus der nicht durch die Europäische Union repräsentiert ist, aber von den Populisten benutzt wird. Zudem haben die Wähler keinen Bezug zu den europäischen Politikern, sondern sehen und kennen nur die Politiker des eigenen Landes. Diese sind direkt verantwortlich dafür, wie die ursprünglichen Berichte von Bruxelles dem eigenen Land vermittelt werden; die Bevölkerung glaubt dann ihnen.

Auf jeden Fall müssen wir lernen miteinander vorwärts zu gehen. Wie? Siehe dazu die obigen Antworten. Der erste Schritt könnte der Wunsch sein, persönlich zu handeln und dann auch gemeinsam Verantwortung zu übernehmen, aus der Erkenntnis der Effizienz und der Rolle des Miteinanders heraus.

Zsófia Bárány, PhD, und Szabolcs Somorjai, PhD, Ungarn, Universitätsassistenten im Bereich Gesellschaft, Wirtschaft in der Neuzeit, Politik und Kirchengeschichte.

 

 

 

 

 

 

Diskussion – Dialog

Diskussion – Dialog

 

DISKUSSION

 

DIALOG

Den anderen von der eigen Sichtweise überzeugen Gemeinsam erforschen und erlernen
Die Zustimmung des anderen erhalten Ideen, Erfahrungen und Gefühle teilen
Das Beste aussortieren Die verschiedenen Sichtweisen integrieren
Rechtfertigen, die eigenen Beweggründe verteidigen Die Aussagen der Parteien bis auf den Grund verstehen
Die Beweggründe des anderen widerlegen, Verteidigung des eigenen Standpunktes (Werte, Interessen) Den anderen annehmen und verstehen
Individuelle Leadership Gemeinsame Leadership
Zerteilte Vision Umfassende Vision, eine Synergie unterschiedlicher Auffassungen
Hierarchische und Wettbewerbs-Kultur, Abhängigkeit Konkurrenz, Ausgrenzung Kultur der Zusammenarbeit, Partnership und Einbeziehung
Sieg  / Niederlage Verdienst aller Teilnehmer

 

vgl. Pal Toth in Nuova Umanità, XXXVII (2015/3) 219, S. 320  

Illustration: Walter Kostner ©

Europa – ein „revolutionäres Projekt“

Europa – ein „revolutionäres Projekt“

Ein kurzer Beitrag aus der geschichtlichen Perspektive zu den religiösen Wurzeln Europas und dessen Schwierigkeiten

„Nicht nur Bücher, auch Begriffe haben ihre Schicksale.“ Mit diesen Worten beginnt die umfängliche Geschichte des Westens, die der Historiker Heinrich August Winkler im Jahr 2009 publiziert hat. Auch wenn Winker hier die Spezifika des „Westens“ entfaltet, gibt er doch gleichzeitig auch Elemente vor, die dem Nachdenken über Europa dienen, denn: Dass sich Begriffe und Bedeutungen verschieben, kann tröstlich, bedrohlich oder sogar ein Signum der Hoffnung sein; so auch und gerade in Europa. Es lohnt sich also ein intensiver Blick auf seine Gedanken.

So ergeben sich grundsätzliche Beobachtungen auch zu Europa, in denen Winkler zu folgen ist: Erstens ist demnach die stärkste gemeinsame Prägung Europas immer noch religiöser Natur. Dieser Befund mag überraschen angesichts laizistischer und säkularer Entwicklungen, aber Säkularisierung in diesem Umfang kann nur als Reaktion auf eine wirkmächtige religiöse Prägung verstanden werden, in die bereits seit ihren Anfängen die Unterscheidung nach göttlicher und weltlicher Ordnung eingeschrieben war. Dieses historische Fundament bildet die Wurzeln Europas, auch wenn die europäische Religionsgeschichte deshalb auch und gerade eine Trennungsgeschichte ist.

Zweitens ist Europa nie einen linearen Weg des Fortschritts gegangen. Europa ist keine kontinuierliche Erfolgsgeschichte, sondern eine Geschichte der Brüche, der Zerstörung, der Neuanfänge und des immer wiederkehrenden Traumes einer gemeinsamen Wertegemeinschaft. Zudem ist diese Gemeinschaft erst in „transatlantischer Zusammenarbeit“ entstanden, wie Winkler es nennt, denn: ohne Declaration of Rights von 1776 keine Erklärung von Menschen- und Bürgerrechten. Die Perspektive ist also breit.

Doch drittens gehört zu Europa ebenso der „Widerspruch zwischen dem normativen Projekt und der politischen Praxis“ (Winkler, 21) und damit die Ungleichzeitigkeit in der Verwirklichung seines revolutionären Projekts: die Freiheit und Gleichheit aller Menschen. Auch heute ist dies in letzter Instanz immer noch ein Ideal.

Was also ist die Konsequenz? Die Konsequenz ist, entweder das revolutionäre Projekt von Freiheit und Gleichheit aufzugeben – oder sich noch intensiver an dessen Grundlinien zu halten. In der Spur von Winkler kann Europa demnach „für die Verbreitung seiner Werte nichts Besseres tun, als sich selbst an sie zu halten und selbstkritisch mit seiner Geschichte umzugehen, die auf weite Strecken eine Geschichte von Verstößen gegen die eigenen Ideale war“ (Winkler, 24) und auch immer noch ist. Das heißt auch: ad fontes! Wo sind die Wurzeln dieses Traumes, dieses revolutionären Projektes – und wie kann daraus heute gelebt werden? Und: Kann es sein, dass geistlichen Gemeinschaften und Bewegungen hier eine besondere Aufgabe zukommt?

Sr. Nicole Grochowina

 

Dialog unter verschiedenartigen Menschen

Dialog unter verschiedenartigen Menschen

Hier ein Impuls, eine Bereicherung für diejenigen von uns, die am 9. Mai, „Fest des Miteinander für Europa„, einen runden Tisch eröffnen möchten, um unter verschiedenartigen Menschen – aus Ost und West, Süd und Nord, Mitgliedern verschiedener Kirchen, Gläubigen oder nicht, Einheimischen oder Flüchtlingen – einen Dialog zu führen…

Die unterschiedliche Zusammensetzung Europas

Um die Situation Europas gut einordnen zu können, müssen wir uns der geopolitischen und kulturellen Wirklichkeit bewusst werden.

Das westliche Europa ist in erster Linie ein sozio-politischer Begriff und identifiziert sich hauptsächlich mit den europäischen Ländern der sogenannten „Ersten Welt“, Ergebnis einer jahrhundertelangen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung, die sich von der osteuropäischen deutlich unterscheidet. Der Begriff Westeuropa wird heute allgemein verbunden mit der liberalen Demokratie, dem Kapitalismus und auch mit der EU, obwohl durch die Erweiterung inzwischen auch östliche Staaten hinzugekommen sind. Die meisten Staaten dieser Region haben die westliche Kultur gemeinsam, obwohl es scheint, dass sie sich heute in einer Krise befindet. Und man bemerkt Verschiedenheiten und Spannungen auch im Innern des Westens, z. B. zwischen Nord und Süd. Oder denken wir an die Kirche Englands, die sich sicher nach der Brexit nicht von Europa abwenden wird, sondern seine ökumenische Beziehungen verstärken möchte.

Dagegen ist Osteuropa eher ein geografischer Begriff, ein Territorium, das durch andere Traditionen und Probleme gekennzeichnet ist. In großen Linien kann man sie in drei kulturelle Gebiete aufteilen: Mitteleuropa, der Balkan und die Länder der ehemaligen Sowjetunion; auf religiöser Ebene kann man die katholisch-protestantische und die orthodoxe Welt unterscheiden, welche auch Denkarten und Verhaltensweisen beeinflussen. Der gemeinsame Nenner der Ostländer findet sich in ihrer postkommunistischen Lage, mit den sozialen und politischen Anstrengungen auf dem schwierigen Weg der Demokratisierung. Mit der Erweiterung der EU passen sich einige von ihnen relativ schnell an das wirtschaftliche und rechtliche System des Westens an, während eine kulturelle Annäherung sehr viel langsamer vorangeht.

Zuerst eine Begegnungskultur aufbauen

Um zu einem fruchtbaren Dialog zu gelangen, müssen wir die Probleme graduell und nicht frontal angehen. Nach dem Weg, den das “Miteinander für Europa “ in seinen 18 Jahren gegangen ist und dessen Erfahrung 2016 an einem internationalen Kongress reichhaltig dargestellt wurde, ist es nun notwendig, aus einer kritischen Verteidigungshaltung herauszukommen und eine Kultur der Begegnung, des gegenseitigen Kennenlernens und der Versöhnung zu fördern.

In den letzten Jahrhunderten betrachtete der Osten den Westen als kulturelles und politisches Modell und entwickelte Verständnis dem gegenüber, was im Westen geschah. Oft jedoch stellten die Osteuropäer schmerzlich fest, dass auf Seiten der Westeuropäer ihnen gegenüber jegliche Kenntnisse fehlten, was leicht zu Missverständnissen führte. Ohne dass der Westen die Werte des Ostens anerkennt, kann man nicht zur Gleichheit und Gegenseitigkeit gelangen. Dazu braucht es Bescheidenheit, Vertrauen, Kenntnisse und gegenseitige Aufnahmefähigkeit.

Demzufolge sollten wir – denke ich – in einem ersten Schritt eine Kultur der Begegnung fördern, eine Plattform bzw. ein “Haus” schaffen, wo man miteinander in Dialog treten kann. In dieser Phase könnten wir auch über unsere kulturellen Traditionen nachdenken, über unsere verschiedenen Denkweisen, um uns so in einem konstruktiven Dialog zu schulen.

Auszug aus der Rede von Pál Tóth „Kultur der Begegnung und des Dialogs zwischen Ost und West in Europa“, Treffen des Trägerkreises von „Miteinander für Europa“ – Wien, 10. November 2017)

Der vollständige Beitrag kann heruntergeladen werden >

Die Grundsätze des Dialogs

Die Grundsätze des Dialogs

Jesús Morán ist der Kopräsident der Fokolar-Bewegung: Studienabschluss in Philosophie, Doktor der Theologie. Hier in 7 Punkten seine anregenden Gedanken um die „Sprache der Geschwisterlichkeit“ zu lernen. 

1. Dialog ist immer persönliche Begegnung. Es geht nicht um Worte oder Gedanken, sondern darum, unser Sein zu schenken. Er ist nicht nur einfach Konversation, sondern etwas, das die Beteiligten im Tiefsten berührt. Rosenzweig sagte: „Im echten Dialog geschieht wirklich etwas“. Mit anderen Worten: Man kommt nicht ungeschoren aus einem echten Dialog, denn etwas verändert sich in uns.

2. Dialog bedarf der Stille und des Zuhörens. Die Stille ist grundlegend für ein klares Denken und Sprechen. Tiefe, geduldig in der Einsamkeit gepflegte Stille, die dann praktisch umgesetzt wird der Begegnung mit dem anderen, mit seinem Denken und Sprechen. Ein schönes indisches Sprichwort sagt: „Wenn du sprichst, vergewissere dich, dass deine Worte besser sind als dein Schweigen“. Heute brauchst es mehr denn je – sagt Benedikt XV.  – „ein Ökosystem, das Stille, Worte, Bilder und Töne im Gleichgewicht hält“. Wenn wir uns auf einen Dialog einlassen, brauchen wir die Stille, um die Worte nicht abzunutzen.

3. Im Dialog stellen wir uns selbst in Frage, unsere Sicht der Dinge, unsere Identität, auch die kulturelle. Wir müssen uns eine „offene Identität“ aneignen, reif und zugleich geprägt von einem tiefen anthropologischen Axiom: „Wenn wir uns mit jemandem verstehen, erkenne ich auch besser, wer ich bin.“ Klaus Hemmerle hat es so ausgedrückt: „Lass mich dich lernen, dein Denken und Sprechen (…) damit ich daran die Botschaft neu lernen kann, die ich dir zu überliefern habe.“

4. Echter Dialog hat mit Wahrheit zu tun. Aber Vorsicht: Die Wahrheit ist eine relationale Wirklichkeit (nicht relative, was etwas anderes ist). Das bedeutet, dass die Wahrheit für alle die gleiche ist, aber jeder teilt mit den anderen die persönliche Partizipation und das Verständnis dieser Wahrheit. Darum sind Unterschiede ein Geschenk, nicht eine Gefahr. Die „Gabe des Unterschiedlichkeit“ ist eine weitere Säule der Dialogkultur.

5. Dialog ist eine Willenssache. Die Liebe zur Wahrheit führt mich dazu, sie zu suchen, sie zu wollen – und darum suche ich den Dialog. Oft denkt man, der Dialog sei eine Sache für Schwache. Das Gegenteil ist jedoch der Fall: Nur wer eine große Willenskraft besitzt, setzt sich selbst dem Dialog aus. Hinter jeder dogmatischen und fundamentalistischen Haltung verbirgt sich Angst und Schwäche. Man muss sich vor jenen in Acht nehmen, die gewöhnlich auf lautes Schreien zurückgreifen, hochtrabende Worte oder disqualifizierende Aussagen gebrauchen, um die eigene Meinung aufzuzwingen. Die rohe Gewalt, auch mit Worten, kann vielleicht siegen, aber nie überzeugen.

6. Dialog ist nur zwischen authentischen Menschen möglich. Die Liebe, die Selbstlosigkeit und die Solidarität bereiten die Menschen zum Dialog vor, indem sie sie echt machen. Gandhi und Tagore hatten ganz unterschiedliche Auffassungen vom Erziehungssystem in einem unabhängigen Indien, aber dies hinderte ihre Freundschaft nicht. Papst Wojtyla und der italienische Präsident Pertini hatten lange Zeit ein tiefes Einvernehmen was das Schicksal der Menschheit betrifft, obwohl sie in fast entgegengesetzten Kategorien dachten.

7. Die Kultur des Dialogs kennt ein einziges Gesetz, das Gesetz der Gegenseitigkeit. Nun in ihm findet der Dialog Sinn und Legitimität. Würden die Nationen mehr auf Dialog setzen als auf das mörderische Schweigen der Rache oder auf Reichtum und Selbstbehauptung, würden wir in jenem Glück schwimmen, dessen wir uns heute berauben. Wenn die Religionen miteinander reden würden, um Gott zu ehren; wenn die Nationen sich respektieren würden und erkennen könnten, das der eigene Reichtum darin besteht, die anderen reich zu machen; wenn jeder einen „kleinen persönlichen Weg“ des Neuen zurücklegen würde, könnten wir die Nacht des Terrors, in der wir uns befinden, hinter uns lassen. Welches sind die Hindernisse auf diesem kleinen Weg? Das Urteilen, das Verurteilen und der intellektuelle Hochmut.

Die Arbeit, die es zu tun gilt, ist handwerklicher Art, denn sie verlangt einen Einsatz ohne Zerstreuungen und Kompromisse. Aber sie ist kulturell reicher als ein Beruf. Sie ist eine mühsame und schonungslose Tätigkeit. Aber die Barmherzigkeit rettet uns.

Cookie Consent mit Real Cookie Banner