von TogetherforEurope | Sep. 26, 2018 | 2018 Trägerkreis | Prag, Erfahrungen, Denkansätze und Interviews, News
Europa lebt von den Ideen, aus denen es entstanden ist
Zur Vorbereitung auf das Treffen des Trägerkreises von Miteinander für Europa, hier drei Fragen an Jiři Kratochvil aus Prag, Experte für den Dialog zwischen den verschiedenen europäischen Kulturen.
Das nächste Treffen des Trägerkreises von „Miteinander für Europa“ findet in Prag statt, Land der „Hussiten“, des „Prager Frühlings“ und der „Samtenen Revolution“. Die große Geschichte des tschechischen Volkes wird den Rahmen zum Dialog unter den Teilnehmern bilden. Wir kann man diese Geschichte vertieft verstehen?
Es ist eine bewegte Geschichte, gekennzeichnet von großen idealistischen und spirituellen Aufbrüchen, von der Suche nach Gerechtigkeit und Wahrheit, die aber oft in große Ernüchterung endete. Dies war gerade bei den drei erwähnten Ereignissen der Fall: Die hussitische Bewegung entbrannte nach dem Tod des Priester Jan Hus, der 1415 auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde und der für seine Anhänger als Märtyrer für die Wahrheit galt. Leider haben die darauffolgenden Kriege, in denen es nicht mehr um die Wahrheit, sondern um Macht ging, das Land komplett verwüstet. So auch viele Jahrhunderte später, 1968, als die Hauptakteure des „Prager Frühlings“, die mit der begeisterten Unterstützung der ganzen Nation – so etwas hatte es zuvor nie gegeben – ein sozialistisches Regime mit einem „menschlichen Gesicht“ errichten wollten, das frei sein sollte von den Lügen und Grausamkeiten der nahen Vergangenheit. Leider wurde diese Hoffnung von den Raupen der Panzer vernichtet und machte einer allgemeinen Resignation Platz, die auch durch das heldenhafte Opfer von Jan Palach (einem Studenten, der sich aus Protest lebendig verbrannte) nicht zum Stillstand kam.
Und dann 1989 die „Samtene Revolution“, an die sich viele von uns noch gut erinnern; sie stand unter dem Wort ihres Hauptprotagonisten, Vaclav Havel: „Liebe und Wahrheit müssen über Lüge und Hass siegen.“ Niemand ahnte jedoch, dass ein so langer Kampf folgen werde: Die geistigen Früchte der ersten Monate, die man bei den Kundgebungen auf der Strassen und Plätzen so stark wahrgenommen hatte, wurden immer geringer weil sie vom Pragmatismus einer „Technologie der Macht“ ersetzt wurden.
Die Fahne des Präsidenten der Tschechischen Republik trägt den Schriftzug „die Wahrheit siegt“. Allerdings wurde die ursprüngliche Version – „Gottes Wahrheit siegt“ – abgeändert. Wir aber sind sicher, dass am Ende der Geschichte Seine Wahrheit siegen wird. Aber vielleicht muss sie zuvor noch manche Niederlage erfahren, wie uns die Geschichte (nicht nur die tschechische) lehrt, aber das entbindet uns nicht von der Pflicht, stets auf Seiner Seite zu stehen, auf der Seite Seiner Wahrheit.
„Miteinander für Europa“ möchte einen Beitrag zur Förderung der Einheit zwischen Ost- und Westeuropa leisten. Welche Rolle fällt dabei der Tschechischen Republik zu?
Aufgrund seiner zerrissenen religiösen Geschichte ist die Tschechische Republik ein sehr säkularisiertes Land. Die Mehrheit seiner Bevölkerung will sich nicht mit einer Kirche identifizieren. Aber das heißt nicht, dass sie atheistisch ist; erstaunlicherweise geht die Zahl derer, die sich als Atheisten bezeichnen, immer mehr zurück. Unter den Menschen, unter den Jugendlichen und auch unter den Intellektuellen gibt es eine starke Sensibilität für spirituelle und kulturelle Werte. Das kam zum Beispiel 2009 beim herzlichen Empfang, den die akademische Gemeinde von Prag Papst Benedikt XVI bereitet hat, zum Ausdruck. Vielleicht hat gerade diese Begegnung den Papst bewogen, einen „Vorhof der Völker“ als Raum für den Dialog mit der „säkularisierten“ Welt einzurichten.
Als Christen verschiedener Kirchen, die untereinander vereint sind, gemeinsam nach möglichen Formen dieses Dialogs zu suchen, das könnte eine Aufgabe für Miteinander für Europa sein. Säkularisierten Laien mit unterschiedlichen Merkmalen und Zügen gibt es in ganz Europa. Tschechien könnte zu einer kleinen „Werkstatt“ der Begegnung mit ihnen werden.
Mit dem Blick auf die Zukunft Europas, welche weitere Herausforderungen zeichnen sich ab auf dem Weg zum angestrebten Ziel, der Einheit?
Eine sehr schwierige Frage, deren Antwort mir zwar nicht einfach, aber gleichzeitig auch logisch erscheint. Man sagt, dass jede Nation – und dies gilt auch für einen Kontinent – von den Ideen lebt, aus denen sie entstanden ist. Man braucht sich nur in Erinnerung zu rufen, woraus das Europa, in dem wir heute leben, hervorgegangen ist: aus Jerusalem (Glaube), aus Athen (Vernunft) und aus Rom (Recht). Auf diesem sicheren Fundament sind seine kulturelle, spirituelle und materielle Größe und sein Reichtum gewachsen. Heute stehen wir vor der Situation einer Völkerwanderung, ähnlich wie die zu Beginn des Mittelalters: Die größte Herausforderung besteht darin, mit dem Anderssein der Neuankömmlinge, die sicherlich viele sein werden, leben zu können, denn die Migrationsströme werden nicht nur aus politischen und wirtschaftlichen Gründen, sondern vor allem aus klimatischen Gründen anhalten.
Wir dürfen uns nichts vormachen: Europa, wie wir es kennen, wird früher oder später verschwinden, nicht zuletzt wegen der sinkenden Geburtenraten. Wir Christen müssen die „kreative Minderheit“ bilden und zu diesen starken Wurzeln unserer Tradition und zu allen wahren Werten, die daraus hervorgegangen sind, zurückkehren, ohne uns jedoch den neuen Impulsen zu verschließen. Auf dieser spirituellen Grundlage können wir mit der Gnade Gottes, um die es immer zu beten gilt, die neue Einheit des neuen Europas suchen.
Jiři Kratochvil, Jahrgang 1953, Wirtschaftsstudium in Prag. Er hat viele Jahre in den Finanzabteilungen von verschiedenen staatlichen Unternehmen gearbeitet. Nach dem Fall des Kommunismus hat er der Caritas beim Wiederaufbau geholfen. Er hat in Kanada, Italien und Deutschland gelebt, sowie in Tschechien und in der Slowakei. Derzeit arbeitet er in Prag als Übersetzer in der tschechischen Bischofskonferenz.
Foto: Prag: ©Canva; Jiři Kratochvil: privat
-
-
Jiři Kratochvil
-
-
Jiři Kratochvil, Raul Silva
von TogetherforEurope | Aug. 22, 2018 | 2016 München, Erfahrungen, Denkansätze und Interviews, News
Es gilt, immer mehr in eine «Kultur des Vertrauens», eines eben auch welthaften Gott-Vertrauens hineinzuwachsen.
Der Beitrag von Herbert Lauenroth am Mitarbeiter-Kongress von „Miteinander für Europa – München 2016″ ist noch immer höchst aktuell. Hier der volle Wortlaut.
Liebe Freunde!
Beginnen möchte ich meine – eher grundsätzlich gehaltenen – Überlegungen zum Thema der Angst, der Angst in Europa mit zwei eindringlichen Bildern biblischer bzw. säkularer Prägung:
(1) Im Buch Genesis ruft Gott nach dem Menschen – in einem dramatischen Augenblick: „Wo bist Du, Adam?“ – Der Ruf geht an den, der sich – schamerfüllt und angstgetrieben – in das Unterholz geflüchtet hat, der sich vor dem Anblick Gottes verbirgt, weil er sich seiner existenziellen Nacktheit und Armseligkeit bewusst geworden ist. Das Bild beschreibt unsere gegenwärtige Situation in Europa recht drastisch: Unser Kontinent verbarrikadiert sich, verschanzt sich in seiner ausweglos erscheinenden Gegenwart. Europa steckt also in diesem Unterholz, diesen Verstrickungen in die eigenen Begrenzungen und Schuldgeschichten. Dieses Unterholz ist Idomeni, die mazedonische Grenze, der stacheldrahtbewehrte Zaun an der ungarisch-serbischen Grenze, es steht aber auch für die vielfältigen Aus-Grenzungen in unserer Gesellschaft.
Liest man nun das biblische Szenarium im Blick auf den Ausbau Europas zur „Festung“ – als Maßnahme gegen die Migranten, dann gewinnt das Bild noch einmal eine andere Lesart: Dann steht hier nämlich der europäische Souverän vor uns: als der eigentlich Unbehauste, Heimatlose, Flüchtende, der auf der fatalsten aller Fluchten ist: der vor sich selbst. Europa muss also neu diesen Anruf des biblischen Gottes vernehmen: als Frage nach der Bestimmung, der Sendung und Verantwortung für sich und die Welt: „Adam/Europa, wo bist Du?“
(2) Dieses Bild einer existenziellen Enge, aus der Gott herausruft, findet seine Entsprechung in den Visionen einer kosmischen Verlorenheit des Menschen in einem indifferenten, ungastlichen Universum. Dem hat der Philosoph und Mathematiker Blaise Pascal Ausdruck verliehen: „Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume macht mich schaudern!“. Es geht hier um ein Entsetzt- oder Ausgesetzt-Sein, das den auf sich zurückgeworfenen, isolierten Menschen ängstigt – und leitmotivisch in der Geschichte Europas als „Verlust der Mitte“ oder „metaphysische Obdachlosigkeit“ beschrieben worden ist.
(3) Diese Angst vor Selbst- und Weltverlust kann aber zugleich auch einen neuen Erfahrungs-Raum erschließen:
* Der tschechische Dichter und Staatspräsident Vaclav Havel hat seinerzeit – im Rückblick auf die friedlichen Revolutionen in Ostmitteleuropa in den Jahren 1989/90 – von der ANGST als „ANGST VOR DER FREIHEIT“ gesprochen: Wir waren wie Gefangene, die sich an das Gefängnis gewöhnt hatten, und dann, aus heiterem Himmel in die ersehnte Freiheit entlassen, nicht wussten, wie sie mit ihr umgehen sollten und verzweifelt waren, weil sie sich ständig selbst entscheiden und Verantwortung für ihr eigenes Leben übernehmen mussten. Es gilt, so Havel, sich dieser Angst zu stellen. Denn so kann sie in uns schließlich auch neue Fähigkeiten wecken: Angst vor der Freiheit kann genau das sein, was uns schließlich lehrt, unsere Freiheit wirklich richtig auszufüllen. Und Angst vor der Zukunft kann genau das sein, was uns zwingt, alles dafür zu tun, dass die Zukunft besser wird.
* Der große protestantische Theologe Paul Tillich schließlich verortet die Angst als grundlegende Erfahrung menschlicher Existenz: Der Mut zum Sein, schreibt er, wurzelt in dem Gott, der erscheint, wenn Gott in der Angst des Zweifels verschwunden ist. Das bedeutet: Erst die Erfahrung der Angst – als Verlust eines vormals prägenden und für unveränderlich gehaltenen Gottes-, Menschen und Welt-Bildes – setzt das frei, was hier „Mut zum Sein“ genannt wird. Der wahre – göttliche – Gott erscheint gewissermaßen im Herzen der Angst, und Er allein bewirkt Ent-Ängstigung. Und diese Erfahrung wiederum führt den Menschen zu den tieferen Erfahrungshorizonten des Seins. Gott offenbart sich in der vermeintlichen Gesichts- und Geschichtslosigkeit der Welt als Antlitz des Anderen.
(4) Es gilt also, in diese „Weltinnenräume“ biografischer wie kollektiver Ängste und Verlusterfahrungen hinabzusteigen, um dort jenem Gott zu begegnen, der uns rettet. Zwei Beispiele:
(4.1) Yad Vashem: Mein Besuch im vergangenen Herbst in der Erinnerungsstätte an die Shoah ist mir unvergeßlich: Ich gehe wie benommen durch diese labyrinthisch anmutende Architektur und gelange schließlich zum „Denkmal für Kinder“, einem unterirdisch angelegten Raum, in dem das Licht brennender Kerzen durch Spiegel reflektiert wird. In diesem dunklen Resonanzraum körperloser Stimmen, die unablässig die elementaren Lebens-Daten der unschuldigen Opfer in Erinnerung rufen, empfinde ich eine neue, tiefe Solidarität – gerade im Blick auf diese tiefsitzende Ur-Angst, nicht nur physisch vernichtet, sondern überhaupt aus dem kulturellen Gedächtnis gelöscht zu werden. Das Zeugnis dieses Ortes wird mir zur eigenen Erfahrung: Dem verlorenen Namen einen Ort geben, dem Namen Gottes und seiner Geschöpfe eine Erinnerung bewahren. Mein Eintrag ins Gästebuch ist ein Satz des Propheten Jesaja und bringt sowohl meine Verstörung als auch die neue Hoffnung auf die unverlierbare Nähe eines väterlichen Gottes zum Ausdruck: „Fürchte Dich nicht, denn ich habe Dich erlöst. Ich habe Dich mit Deinem Namen gerufen, Du bist mein!“
(4.2) Und im Blick auf die Großen europäischen Erzählungen der Angst beschreibt der tschechische Philosoph und Theologe Tomás Hálik eine ähnliche Erfahrung: „Das kühne Projekt der europäischen Einheit errichten wir nicht auf unbekanntem Boden oder Brachland. Wir bauen es auf einem Boden, in dessen Schichten vergessene Schätze und verbrannte Trümmer lagern, wo Götter, Helden und Verbrecher begraben sind, verrostete Gedanken und nicht explodierte Bomben liegen. Wir müssen uns von Zeit zu Zeit aufmachen und in die Tiefen Europas blicken, in die Unterwelt, wie Orpheus zu Eurydike oder der getötete Christus zu Abraham und den Vätern aus dem Alten Testament.“
(5) Für mich bündeln sich diese verschiedenen „Abstiege in die Abgründe der Angst“ in der Schilderung der Taufe Jesu bei Matthäus:
„Als aber Jesus getauft war, stieg er sogleich aus dem Wasser herauf; und siehe, die Himmel wurden ihm aufgetan, und er sah den Geist Gottes wie eine Taube herniederfahren und auf ihn kommen. Und siehe, eine Stimme ergeht aus den Himmeln, die spricht: Dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen gefunden habe.“ Mit Christus absteigen, um an jenen Nullpunkt zu gelangen, über dem sich dann ganz überraschend der Himmel öffnet. Und hier zeigt sich Gottes Lebensgesetz: „Was von oben kommt, muss von unten wachsen.“ So entsteht in, mit und durch Jesus jene „geschwisterlich“ geprägte Solidargemeinschaft, in der sich die einzelnen nicht nur als „Schwestern und Brüder“, sondern auch als „Söhne und Töchter Gottes“ erkennen, in der also „Menschenwürde“ und „Gottebenbildlichkeit“ eine untrennbare Einheit bilden.
(6) In seinen Aufzeichnungen aus der Haft „Widerstand und Ergebung“ sieht Dietrich Bonhoeffer den Kern der christlichen Identität als Antwort an die Anfrage Jesu im Moment seiner Todesangst in Gethsemane: „Könnt Ihr nicht eine Stunde mit mir wachen?“ – Es ist die Einladung zur Nachtwache an der Seite Jesu, seiner dem Vater zugewandten Gegenwart in einer säkularen – vermeintlich gott-losen – Welt, und diese Gegenwart Jesu verwandelt unterschiedlichste Orte in Erfahrungs- und Erwartungs-Räume trinitarischen Lebens.
(7) Die „Angst“ erscheint in dieser Schlüsselstelle des Lukas-Evangeliums als privilegierter Lernort des Glaubens, an dem sich unsere diffusen, „blinden“ Ängste, bündeln und zur authentischen und erkenntnisstiftenden „Gottes-Furcht“ Jesu wandeln.
Denn:
- In, mit, durch Jesus: ereignet sich die Ent- als echte Durch-Ängstigung des Menschen auf Gott hin: Die vermeintliche Preisgabe des Sohnes wandelt sich zur Hingabe an den Vater.
- Einheit wächst als Erfahrung wechselseitigen Vertrauens aus der Sensibilität für das unverfügbare Geheimnis Gottes, der Alterität des anderen; die jüdische Philosophin Simone Weil hat für diese Erfahrung eine markante Formulierung gefunden: erst das vorbehaltlose „Einwilligen in die Distanz des anderen“ – so die franz. Philosophin Simone Weil – ermöglicht authentische Nähe und Gemeinschaft mit Gott und den Menschen.
- Und also geht es darum: Das Unbekannte, Fremde, Randständige bevorzugen – als „Lernort“ des Glaubens – in, mit, durch Jesus.
- Das gilt gerade auch für die verschiedenen Charismen und die Gemeinschaft unter ihnen: Bei einer Begegnung des „MfE“ im November 2013 mit Jean Vanier, dem Gründer der „Arche“, in Paris wurde uns deutlich: Eigentlich besteht die Aufgabe der Charismen auch darin, das „Charisma der Welt“ zu empfangen und eben dieser Welt zu spiegeln; Vaniers Zeugnis hat uns sehr beeindruckt: nicht in erster Linie mit und für die „Adressaten“ der Seligpreisungen Jesu zu leben, sondern von ihnen her. Sie, die vermeintlich Bedürftigen und Empfangenden, sind die eigentlich Gott-Begabten und Gebenden, die Träger einer Botschaft, einer Gegenwart Gottes, die von den Rändern wieder in die Mitte unserer Gesellschaften gelangen muss. Der Aachener Bischof und Religionsphilosoph Klaus Hemmerle formulierte prägnant: „Lass mich an Dir die Botschaft lernen, die ich Dir zu überbringen habe“.
(8) Diese Haltung aber verlangt eine „Schubumkehr“, eine echte Metánoia im Selbst- und Weltverständnis so mancher Christen, einen neuen Glauben an die in Christus geoffenbarte Liebe Gottes zur Welt. Dabei gilt es, immer mehr in eine „Kultur des Vertrauens“, ja eines eben auch welthaften Gott-Vertrauens hineinzuwachsen, das in Jesus grundgelegt ist.
(9) Der Blick hinauf in die Kuppel des Circus-Krone-Bau lässt uns vielleicht an die Trapezkünstler denken – für mich die wahren Artisten der Ent-Ängstigung: immer im Wagnis des Vertrauens, des Loslassens und sich erneut Ausstreckens im Raum des Zukünftigen, als „Springer in der Schwebe“ (H.Nouwen). Artistischer Augen-Blick in jenem prophetischen und immer auch prekären, riskanten Zwischen von „Gnade und Schwerkraft“: als Anmut des Schwere-Losen, in der sich das Geschöpf doch immer gehalten und unterfangen, in gewisser Weise von sich „erlöst“ und zum anderen hin befreit weiß:
„Ein Springer muss springen, und ein Fänger muss fangen, und der Springer muss mit ausgestreckten Armen und offenen Händen darauf vertrauen, dass der Fänger da sein wird. … Denke daran, dass du Gottes geliebtes Kind bist. Er wird da sein, wenn Du Deinen langen Sprung machst. Versuche nicht, nach ihm zu greifen. Er wird nach Dir greifen. Strecke einfach Deine Arme und Hände aus – und vertraue, vertraue, vertraue!“ (H. Nouwen)
Herbert Lauenroth (Ökumenisches Lebenszentrum Ottmaring bei Augsburg), München, Circus-Krone-Bau, 01.07.2016
Foto: Trapezkünstler ©Thierry Bissat (MfG); H. Lauenroth: ©Ursula Haaf
von TogetherforEurope | Apr. 30, 2018 | 2018 Europatag, Erfahrungen, Denkansätze und Interviews, News
Hat Europa eine Zukunft? Welchen Beitrag seht ihr etwa von Seiten der Kirchen und der christlichen Bewegungen und Gemeinschaften?
Sicher hat Europa eine Zukunft! Und darin spielen die Gemeinschaften und die Kirchen einzeln und gemeinsam eine wichtige Rolle, indem sie die Zivilgesellschaft stärken. Diese wird die künftigen führenden Politiker hervorbringen und in der Zwischenzeit stärkt und fördert sie das bürgerliche Engagement. „Der grösste Schaden wird von jenen Millionen von Menschen verursacht, die einfach ‚überleben‘ wollen.“ Deshalb sind die Gemeinschaften von Bedeutung, denn sie leben und entwickeln ihre je eigenen Gaben (wie etwa Ordnung, Freiheit, Gehorsam, Verantwortung, Gleichheit, Hierarchie, Achtung, Berichtigung, Privateigentum, Kollektiveigentum, Wahrheit usw.) und machen darauf aufmerksam.
Am 9. Mai feiern wir den „Europatag“. Was löst dieses Datum in euch aus? Wie würdet ihr euch wünschen, dass die Europäer diesen Tag feiern?
Die Wahl des Datums wie auch die Initiative selbst ist gut und notwendig. Die Frage stellt sich über das „Wie“. Man müsste einen Europatag konzipieren in dem – neben den interdisziplinären Konferenzen der verschiedenen wissenschaftlichen Bereiche – auch die ganze Gesellschaft einbezogen werden könnte. Keine offiziellen Festivitäten, sondern beispielsweise „Massenkundgebungen“, ähnlich dem Projekt mit den Kulturhauptstädten. Die Erfahrung zeigt, dass es immer die Politik ist, die offizielle Feierlichkeiten organisiert. Aber diese Nutzung zu eigenen Zwecken hält die Menschen von solchen offiziellen Anlässen fern.
Wenn du Präsident/in der Europäischen Kommission wärst (d.h. wenn du eine verantwortliche Funktion mit Entscheidungsbefugnissen innehättest), welche Prioritäten, um die Gemeinschaft unter den europäischen Völker zu erhalten und zu fördern, stünden in der Agenda?
Keine Uniformität anstreben, sondern vielmehr auf der Grundlage der gegenseitigen Anerkennung der Identität und der Solidarität die Integration fördern, stärken und beschleunigen. Es liegt auf der Hand, dass dieses schwache föderative System nicht funktioniert. Ein Beispiel sind die USA, wo man vergeblich eine gemeinsame Sprache spricht und man freiere Foren durch zentralistische verdrängt hat. Internationale Projekte wie etwa ERASMUS weiterführen und auf Forscher und Dozenten an Universitäten erweitern, aber mit der Zeit auch auf Erzieher und Lehrer der unteren Stufen. Unabhängig von der Studienrichtung müsste für alle Studierenden ein obligatorischer Semesteraufenthalt im Ausland eingeführt werden. Interuniversitäre Kurse zwischen benachbarten Ländern müssten regelmässig stattfinden (z.B. in Form von Sommer-Universitäten).
Wie seht ihr Europa im Kontext der aktuellen Weltpolitik?
Europa steht vor zwei wesentliche Herausforderungen. 1. Die Frage der Einheit: Wenn es Europa nicht gelingt die Einheit zu festigen und ihr Ausdruck zu verleihen, wird es an Gewicht einbüssen (siehe 2. Herausforderung). 2. Die Korruption: Jeder auch noch so kleine wirtschaftliche, moralische oder sexuelle Missbrauch kann der internationalen Gemeinschaft grossen Schaden zufügen, unabhängig davon, ob von einer öffentlichen oder privaten Instanz verübt. Dies kann nur und vor allem durch eine beständige und gemeinsame Gewissensprüfung (Reflexion) verhindert werden.
Es scheint, dass junge Menschen sich wenig Gedanken über die Zukunft Europas machen. Ist das so?
Junge Menschen lieben das Konkrete. Nicht-Greifbares interessiert sie nicht. Man müsste z.B. die Anzahl der Studenten im ERASMUS-Programm erhöhen und mehr in Auslandstudienprogramme investieren, damit sich die Jugend besser kennenlernen kann. Zudem bräuchte es konkrete europäische Ziele, an die sie glauben und wofür sie sich begeistern könnten.
Wie denkt ihr über die populistischen Tendenzen? Könnte es in einem MITEINANDER nicht besser gehen? Aber wie?
Erstens sind sie die Konsequenz der letzten Wirtschaftskrise; zweitens auch der verschiedenen bewaffneten Konflikte und Auseinandersetzungen (beispielsweise durch fremde Einmischungen); drittens sind sie durch den Nationalismus verursacht, der eine Frucht der oben erwähnten Realität ist; eines Nationalismus der nicht durch die Europäische Union repräsentiert ist, aber von den Populisten benutzt wird. Zudem haben die Wähler keinen Bezug zu den europäischen Politikern, sondern sehen und kennen nur die Politiker des eigenen Landes. Diese sind direkt verantwortlich dafür, wie die ursprünglichen Berichte von Bruxelles dem eigenen Land vermittelt werden; die Bevölkerung glaubt dann ihnen.
Auf jeden Fall müssen wir lernen miteinander vorwärts zu gehen. Wie? Siehe dazu die obigen Antworten. Der erste Schritt könnte der Wunsch sein, persönlich zu handeln und dann auch gemeinsam Verantwortung zu übernehmen, aus der Erkenntnis der Effizienz und der Rolle des Miteinanders heraus.
Zsófia Bárány, PhD, und Szabolcs Somorjai, PhD, Ungarn, Universitätsassistenten im Bereich Gesellschaft, Wirtschaft in der Neuzeit, Politik und Kirchengeschichte.
von TogetherforEurope | Apr. 4, 2018 | 2018 Europatag, Erfahrungen, Denkansätze und Interviews, News
DISKUSSION
|
|
DIALOG
|
|
|
|
Den anderen von der eigen Sichtweise überzeugen |
|
Gemeinsam erforschen und erlernen |
Die Zustimmung des anderen erhalten |
|
Ideen, Erfahrungen und Gefühle teilen |
Das Beste aussortieren |
|
Die verschiedenen Sichtweisen integrieren |
Rechtfertigen, die eigenen Beweggründe verteidigen |
|
Die Aussagen der Parteien bis auf den Grund verstehen |
Die Beweggründe des anderen widerlegen, Verteidigung des eigenen Standpunktes (Werte, Interessen) |
|
Den anderen annehmen und verstehen |
Individuelle Leadership |
|
Gemeinsame Leadership |
Zerteilte Vision |
|
Umfassende Vision, eine Synergie unterschiedlicher Auffassungen |
Hierarchische und Wettbewerbs-Kultur, Abhängigkeit Konkurrenz, Ausgrenzung |
|
Kultur der Zusammenarbeit, Partnership und Einbeziehung |
Sieg / Niederlage |
|
Verdienst aller Teilnehmer |
vgl. Pal Toth in Nuova Umanità, XXXVII (2015/3) 219, S. 320
Illustration: Walter Kostner ©
von Sr. Nicole Grochowina | Apr. 4, 2018 | 2018 Europatag, Erfahrungen, Denkansätze und Interviews, News
Ein kurzer Beitrag aus der geschichtlichen Perspektive zu den religiösen Wurzeln Europas und dessen Schwierigkeiten
„Nicht nur Bücher, auch Begriffe haben ihre Schicksale.“ Mit diesen Worten beginnt die umfängliche Geschichte des Westens, die der Historiker Heinrich August Winkler im Jahr 2009 publiziert hat. Auch wenn Winker hier die Spezifika des „Westens“ entfaltet, gibt er doch gleichzeitig auch Elemente vor, die dem Nachdenken über Europa dienen, denn: Dass sich Begriffe und Bedeutungen verschieben, kann tröstlich, bedrohlich oder sogar ein Signum der Hoffnung sein; so auch und gerade in Europa. Es lohnt sich also ein intensiver Blick auf seine Gedanken.
So ergeben sich grundsätzliche Beobachtungen auch zu Europa, in denen Winkler zu folgen ist: Erstens ist demnach die stärkste gemeinsame Prägung Europas immer noch religiöser Natur. Dieser Befund mag überraschen angesichts laizistischer und säkularer Entwicklungen, aber Säkularisierung in diesem Umfang kann nur als Reaktion auf eine wirkmächtige religiöse Prägung verstanden werden, in die bereits seit ihren Anfängen die Unterscheidung nach göttlicher und weltlicher Ordnung eingeschrieben war. Dieses historische Fundament bildet die Wurzeln Europas, auch wenn die europäische Religionsgeschichte deshalb auch und gerade eine Trennungsgeschichte ist.
Zweitens ist Europa nie einen linearen Weg des Fortschritts gegangen. Europa ist keine kontinuierliche Erfolgsgeschichte, sondern eine Geschichte der Brüche, der Zerstörung, der Neuanfänge und des immer wiederkehrenden Traumes einer gemeinsamen Wertegemeinschaft. Zudem ist diese Gemeinschaft erst in „transatlantischer Zusammenarbeit“ entstanden, wie Winkler es nennt, denn: ohne Declaration of Rights von 1776 keine Erklärung von Menschen- und Bürgerrechten. Die Perspektive ist also breit.
Doch drittens gehört zu Europa ebenso der „Widerspruch zwischen dem normativen Projekt und der politischen Praxis“ (Winkler, 21) und damit die Ungleichzeitigkeit in der Verwirklichung seines revolutionären Projekts: die Freiheit und Gleichheit aller Menschen. Auch heute ist dies in letzter Instanz immer noch ein Ideal.
Was also ist die Konsequenz? Die Konsequenz ist, entweder das revolutionäre Projekt von Freiheit und Gleichheit aufzugeben – oder sich noch intensiver an dessen Grundlinien zu halten. In der Spur von Winkler kann Europa demnach „für die Verbreitung seiner Werte nichts Besseres tun, als sich selbst an sie zu halten und selbstkritisch mit seiner Geschichte umzugehen, die auf weite Strecken eine Geschichte von Verstößen gegen die eigenen Ideale war“ (Winkler, 24) und auch immer noch ist. Das heißt auch: ad fontes! Wo sind die Wurzeln dieses Traumes, dieses revolutionären Projektes – und wie kann daraus heute gelebt werden? Und: Kann es sein, dass geistlichen Gemeinschaften und Bewegungen hier eine besondere Aufgabe zukommt?
Sr. Nicole Grochowina
von Pal Toth | Apr. 4, 2018 | 2018 Europatag, Erfahrungen, Denkansätze und Interviews, News
Hier ein Impuls, eine Bereicherung für diejenigen von uns, die am 9. Mai, „Fest des Miteinander für Europa„, einen runden Tisch eröffnen möchten, um unter verschiedenartigen Menschen – aus Ost und West, Süd und Nord, Mitgliedern verschiedener Kirchen, Gläubigen oder nicht, Einheimischen oder Flüchtlingen – einen Dialog zu führen…
Die unterschiedliche Zusammensetzung Europas
Um die Situation Europas gut einordnen zu können, müssen wir uns der geopolitischen und kulturellen Wirklichkeit bewusst werden.
Das westliche Europa ist in erster Linie ein sozio-politischer Begriff und identifiziert sich hauptsächlich mit den europäischen Ländern der sogenannten „Ersten Welt“, Ergebnis einer jahrhundertelangen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung, die sich von der osteuropäischen deutlich unterscheidet. Der Begriff Westeuropa wird heute allgemein verbunden mit der liberalen Demokratie, dem Kapitalismus und auch mit der EU, obwohl durch die Erweiterung inzwischen auch östliche Staaten hinzugekommen sind. Die meisten Staaten dieser Region haben die westliche Kultur gemeinsam, obwohl es scheint, dass sie sich heute in einer Krise befindet. Und man bemerkt Verschiedenheiten und Spannungen auch im Innern des Westens, z. B. zwischen Nord und Süd. Oder denken wir an die Kirche Englands, die sich sicher nach der Brexit nicht von Europa abwenden wird, sondern seine ökumenische Beziehungen verstärken möchte.
Dagegen ist Osteuropa eher ein geografischer Begriff, ein Territorium, das durch andere Traditionen und Probleme gekennzeichnet ist. In großen Linien kann man sie in drei kulturelle Gebiete aufteilen: Mitteleuropa, der Balkan und die Länder der ehemaligen Sowjetunion; auf religiöser Ebene kann man die katholisch-protestantische und die orthodoxe Welt unterscheiden, welche auch Denkarten und Verhaltensweisen beeinflussen. Der gemeinsame Nenner der Ostländer findet sich in ihrer postkommunistischen Lage, mit den sozialen und politischen Anstrengungen auf dem schwierigen Weg der Demokratisierung. Mit der Erweiterung der EU passen sich einige von ihnen relativ schnell an das wirtschaftliche und rechtliche System des Westens an, während eine kulturelle Annäherung sehr viel langsamer vorangeht.
Zuerst eine Begegnungskultur aufbauen
Um zu einem fruchtbaren Dialog zu gelangen, müssen wir die Probleme graduell und nicht frontal angehen. Nach dem Weg, den das “Miteinander für Europa “ in seinen 18 Jahren gegangen ist und dessen Erfahrung 2016 an einem internationalen Kongress reichhaltig dargestellt wurde, ist es nun notwendig, aus einer kritischen Verteidigungshaltung herauszukommen und eine Kultur der Begegnung, des gegenseitigen Kennenlernens und der Versöhnung zu fördern.
In den letzten Jahrhunderten betrachtete der Osten den Westen als kulturelles und politisches Modell und entwickelte Verständnis dem gegenüber, was im Westen geschah. Oft jedoch stellten die Osteuropäer schmerzlich fest, dass auf Seiten der Westeuropäer ihnen gegenüber jegliche Kenntnisse fehlten, was leicht zu Missverständnissen führte. Ohne dass der Westen die Werte des Ostens anerkennt, kann man nicht zur Gleichheit und Gegenseitigkeit gelangen. Dazu braucht es Bescheidenheit, Vertrauen, Kenntnisse und gegenseitige Aufnahmefähigkeit.
Demzufolge sollten wir – denke ich – in einem ersten Schritt eine Kultur der Begegnung fördern, eine Plattform bzw. ein “Haus” schaffen, wo man miteinander in Dialog treten kann. In dieser Phase könnten wir auch über unsere kulturellen Traditionen nachdenken, über unsere verschiedenen Denkweisen, um uns so in einem konstruktiven Dialog zu schulen.
Auszug aus der Rede von Pál Tóth „Kultur der Begegnung und des Dialogs zwischen Ost und West in Europa“, Treffen des Trägerkreises von „Miteinander für Europa“ – Wien, 10. November 2017)
Der vollständige Beitrag kann heruntergeladen werden >