Der Beitrag der Orden und religiösen Institutionen zur Einheit Europas
Europa hat schon zur Zeit des Römischen Reiches eine gewisse Einheitsbestrebung erlebt. Diese war aber, durch die ‘römischen Legionen’ gewaltsam erzwungen, nicht von Dauer. Als das Reich zerfiel, fand sich Europa wieder zerteilt vor und die ethnischen und kulturellen Verschiedenheiten seiner Völker, die ihre eigene Identität suchten, nahmen wieder überhand. So zeigte sich Europa um das 5. Jahrhundert als ein Gemisch von unter einander rivalisierenden Völkern.
In dieser Phase der Zersplitterung und in den darauffolgenden Jahrhunderten traten aber auch immer wieder geistgeführte Männer und Frauen auf, die den europäischen Völkern neue Ideale und hohe universale Werte brachten, die vor allem aus dem jüdisch-christlichen Erbe stammten. Es waren Werte und Ideale, die die europäischen Völker dazu brachten, wieder miteinander in Dialog zu treten, ihre Reichtümer zu teilen und so für den Kontinent ein neues, soziales und kulturelles Einheitsnetz zu flechten.
Vor einigen Jahren beschrieb dies Kardinal Walter Kasper bei einer Tagung folgendermaßen: «Heilige wie Martin, Benedikt, Bonifatius, die Gebrüder Kiril und Methodius, Adalbert, Bernhard, Franziskus, Domenikus und viele andere mehr haben Europa geformt. Diese heiligen Männer und unzähligen heiligen Frauen sind der wertvolle Beitrag der Kirche zur Einheit und Identität Europas.»
Es waren Menschen, die neue Spiritualitäten, geistliche Bewegungen, religiöse Familien, kulturelle Zentren und soziale Werke inspirierten, durch welche in der Bevölkerung Europas nach und nach eine auf gemeinsamen Werten aufbauende Identität wachsen konnte.
Die erste grosse charismatische Familie gründete Benedikt von Nursia (480-547) in Italien. Um ihn herum wuchs, nach Afrika und dem Orient, nun auch im Abendland das Mönchstum: Das benediktinische Erbe, welches mit all seinen historischen Ausprägungen einen entscheidenden Beitrag leistete zur Evangelisation des Kontinents und zur Entstehung der europäischen Kultur des Mittelalters. Es hat beigetragen zum Dialog zwischen den Werten der römischen Zivilisation, die es mit den jüdisch-christlichen verband, und den neuen sogenannten „heidnischen“ Kulturen, die mit den Völker aus Norden und Osten nach und nach auf dem europäischen Kontinent Fuß fassten.
Die Benediktiner schufen mit ihrer weitverzweigten Expansion und ihren grossen Abteien geistliche Zentren, die gleichzeitig auch kulturelle Zentren waren und den humanitären, sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt förderten, wobei sie sich besonders der Armen und Randgruppen annahmen.
Im 9. Jahrhundert begannen in Osteuropa zwei griechische Mönche, die Gebrüder Kiril und Methodius, neben der Evangelisation der dortigen Bevölkerung auch einen beachtlichen Prozess, den man als Fundament der Kultur der slawischen Völker bezeichnen kann. Die beiden Brüder aus Saloniki (Griechenland), obwohl geprägt vom griechisch-römischen Abendland, schufen ein neues Alphabet und leisteten damit einen entscheidenden Beitrag zur Entwicklung der Kultur und der Literatur der slawischen Völker.
Zwischen dem 11. und der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts traten weitere charismatische Männer mit großem kulturellem Tiefgang auf. Unter diesen war Bernhard von Clairvaux, der vom benediktinischen Stamm des Mönchstums kommend mit dem Zisterzienserorden eine neue Bewegung gründete
Das 13. Jahrhundert war dann die Blütezeit weiterer charismatischer Bewegungen: die Bettelorden. Auch diese wurden von charismatischen Männern meist in einem nationalen Kontext begonnen, erlangten aber bald übernationalen Charakter und verbreiteten sich über den ganzen Kontinent und später auch weltweit.
Besonders bekannt sind die dominikanische Bewegung, die auf den spanischen Gründer Domenico de Guzman (1170-1221) zurückgeht, und in Italien die franziskanische Bewegung, von Franz von Assisi (1182-1226) gegründet. Es sind religiöse Bewegungen die, obwohl in tiefer Spiritualität verwurzelt, auch manche Bereiche der Kultur und des menschlichen Wissens beeinflusst haben. Sie entwickelten die Theologie, aber auch die Philosophie, die Literatur, die Wissenschaft, die Kunst. Damals und auch später gab es an allen europäischen Universitäten Dozenten, die aus den Bettelorden hervorgegangen waren.
Mit dem Aufkommen des Humanismus und der Renaissance entstanden einzelne starke Staaten. Zu diesem Prozess trugen die erwähnten charismatischen Bewegungen entscheiden bei, aber gleichzeitig kamen auch neue Charismen hinzu.
Das 16. und 17. Jahrhundert erlebte das Aufkommen neuer religiöser Familien. Ignatius von Loyola und die Jesuiten in Spanien. Theresa von Avila, Johannes vom Kreuz und die Karmeliter in Spanien, Johannes von Gott und die Barmherzigen Brüder, die sich der Kranken annahmen; In Frankreich Vinzenz von Paul und die Barmherzigen Schwestern; Franz von Sales, Johannes Baptist de la Salle für die Erziehung junger Menschen und Schulen, die allen zugänglich waren; Philippus Neri und die Kongregation des Oratoriums, Hieronymus Ämiliani, Kajetan von Thiene, Kamil von Lellis mit den Spitälern in Italien. In dieser Zeit vollzog sich auch innerhalb der Franziskaner eine Reform, aus welcher die Kapuziner hervorgingen. In Deutschland begann durch Martin Luther die grosse Reformation.
Viele andere Spiritualitäten kamen auf und leisteten von ihren Anfängen an einen entscheidenden Beitrag zur kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Identität des modernen Europas. Jedes Charisma das hervorkam, hatte eine starke spirituelle Besonderheit, war aber auch ausgerichtet auf die Probleme, die Herausforderungen, die sozialen und menschlichen Bedürfnisse Einzelner und der Völker allgemein. Vielen Menschen in Europa ermöglichten diese Beiträge den Zugang zu Kultur, zu medizinischer Betreuung, zu Erwerbstätigkeit und Wohnraum, zu einem menschenwürdigen Leben unter Wahrung der Menschenrechte.
Dieses Phänomen wiederholte sich im 18. und 19. Jahrhundert. Trotz der Unterdrückung der religiösen Orden, zunächst durch Napoleon und dann durch einige europäische Staaten, entstanden unzählige neue religiöse Institute und Familien. Man denke an Don (Johannes) Bosco, der im Turin (Italien) des 19. Jahrhunderts die Salesianer gründete, an Josef Benedikt Cottolengo und Joseph Cafasso, die Turiner Sozialheiligen, die den Kranken und Ärmsten beistanden, an den Beitrag des Bischofs John Henry Newman in England und viele andere.
Im 20. Jahrhundert entstanden in Europa neue religiöse Institutionen, wie jene von Don Giacomo Alberione, von Don Luigi Orione, von Mutter Theresa von Kalkutta, Edith Stein und Maximilian Kolbe. Daneben gab es vielfältige anderen Formen charismatischen Lebens, die sich als kirchliche Laienbewegungen weit verbreiteten. Alle haben eine eigene starke spirituelle Identität, befassen sich aber zugleich auch mit den dramatischen Herausforderungen der Moderne in unserem Kontinent.
Ohne den einstigen Beitrag der religiösen Orden und Institute und ohne den Reichtum der heutigen kirchlichen Bewegungen, die innerhalb der verschiedenen Konfessionen und christlichen Gemeinschaften entstanden sind, wäre Europa um einiges ärmer und zerbrechlicher.
Obwohl in nationalen Kontexten entstanden, haben diese spirituellen und charismatischen Kräfte von Anfang an über die nationalen Grenzen hinaus gewirkt und somit einen starken Beitrag geleistet zur Schaffung eines geeinten, soliden, freien, geschwisterlichen und solidarischen Europa.
von P. Egidio Canil, Sacro Convento der Franziskaner in Assisi, Italien
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