David-Maria Sassoli, Italienischer Europaparlamentarier der Demokratischen Partei, während der ökumenischen Gebetsfeier in Rom 2017
Herr Sassoli, am Vorabend des 60. Jahrestages der «Römischen Verträge», die kennzeichnend für die Geburtsstunde der Europäischen Union sind, beobachtet man vielerorts, dass Europa seine christlichen Wurzeln verloren hat. Es ist konzentriert auf die Finanzen, die Bürokratie und die nationalen Interessen und erscheint unfähig zu Solidarität, Gastfreundschaft und zu einem Entwicklungsprojekt, das auf den Menschen ausgerichtet ist. Was sagen Sie dazu?
„Vor allem müssen sich die Christen mehr zu Wort melden und es braucht in der christlichen Welt ein Netzwerk, das Zeugnis für andere gibt. Denn es gibt Werte wie den Frieden, die Koexistenz, die Solidarität, die Gerechtigkeit, die durchaus christliche Prägung haben, aber die sich heute auch nicht-christliche Bürger als Paradigma für ihren politischen, kulturellen und moralischen Einsatz zu eigen gemacht haben. Es sind diese Elemente, die die europäische Identität ausmachen: Darüber müssten die Christen froh und dankbar sein, denn in der europäischen Identität finden sich jene Werte wieder, die auch dem christlichen Weltbild eigen sind. Doch in diesem Moment sind wir gefordert, dies unseren Mitbürgern gut zu erklären, denn Europa macht heute Angst, bereitet Sorge, wird als Last empfunden; stattdessen müssten wir in der Einheit der Europäer jenen Wert erkennen, der es uns ermöglicht, der großen Herausforderung unseres Jahrhunderts gewachsen zu sein: die Gestaltung des globalen Marktes. Globalisierung ohne Regeln führt zu Ausgrenzung, Armut, Elend und kann sich für große Teile des Planeten katastrophal auswirken. Die große Herausforderung an Europa ist es, der Welt diese Regeln und Werte zu geben. Denn die Regeln dieses Marktes ohne Schutz der Menschenrechte, ohne Freiheit und Demokratie, wären reine Wirtschaftsgesetze, die vor allem den Starken dienen – und das wollen wir nicht. Also sind wir aufgerufen, die christlichen Werte, die schon am Ursprung der europäischen Identität standen, heute auch in die weltweiten Herausforderungen einzubringen.“
Um das Gefälle zwischen den wirtschaftlich stärkeren Ländern und jenen, die noch im Wachstum stehen, zu überwinden, spricht man von einem Europa der «zwei Geschwindigkeiten». Wie sehen Sie das?
„Wenn dies bedeuten sollte, dass es dann ein A-klassiges und ein B-klassiges Europa gäbe, wäre das nicht gut. Wenn es hingegen bedeutet, dass sich gewisse Länder zusammenschließen könnten, wie es der Vertrag von Lissabon vorsieht, um sich gegenseitig zu stärken und sich auf ein gemeinsames politisches Vorgehen zu einigen, dies allerdings ohne die bestehenden europäischen Standards zu verletzten, dann könnte das interessant sein. So haben wir es mit dem Euro gemacht: zunächst mit einer verstärkten Zusammenarbeit von zehn, elf Ländern, denen sich dann andere angeschlossen haben. Das ist eine gute Methode, denn in den europäischen Mechanismen ist es tatsächlich schwierig zu einer Einstimmigkeit zu finden. Wenn es beispielsweise Länder gäbe, wie Frankreich, Italien, Spanien, Deutschland, Belgien und andere, die auf eine gemeinsame Verteidigungsstrategie setzen möchten, so ist dies willkommen: Wir hätten einen Kern von Ländern die vorangehen und diesem könnten dann andere folgen.“
Es wird viel darüber gesprochen, dass man die Verträge überarbeiten müsste. Anlässlich der Karlspreisverleihung im Mai 2016 wurde dies auch von Papst Franziskus in seiner Rede im Europäischen Parlament bekräftigt. In welche Richtung müssten sie überarbeitet werden?
„Wir müssen sie ändern und zu einer europäischen Konstitution kommen, aber realistischer Weise muss ich mit Bedauern sagen, dass in diesem Moment die Wiedereröffnung der Diskussion über die Verträge sehr gefährlich sein könnte und wir da sehr vorsichtig sein müssen. Würden wir jetzt etwa eine Debatte über Schengen wieder aufnehmen, was würde aus diesem Europa mit den vielen nationalistischen Regierungen werden? Regierungen, die Angst vor einer Flüchtlings-Invasion haben. Es ist besser, wenn wir uns zunächst auf politische Themen konzentrieren, die mehr Europa schaffen können, denn dies haben wir nötiger als alle Institutionen, Regeln und Verträge.“
Claudia Di Lorenzi
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