Vom 19. März bis 5. Mai gibt es in der österreichischen Hauptstadt Veranstaltungen an verschiedenen Orten. Das Ziel: im Blick auf die Europawahlen BürgerInnen und Parlamentarier zusammenzubringen, um konstruktiv über Politik zu sprechen.
Was liegt den Wiener Freunden von Miteinander für Europa am Herzen?
“Die gegenwärtigen Probleme der Europäischen Union in Bezug auf ihre politische, wirtschaftliche und strukturelle Gestalt betreffen uns alle. Wir von Miteinander für Europa fühlen uns herausgefordert, unsere Berufung zur Einheit und unsere Kultur des Miteinanders in das Ringen um die Zukunft Europas einzubringen. Wir sind überzeugt, dass die «Einheit in Vielfalt», die uns in einem ergreifenden Prozess der Versöhnung geschenkt wurde, eine Antwort Gottes ist auf die Bedürfnisse unserer Zeit. In diesem Vertrauen wollen wir BürgerInnen, Fachleute und EU Parlamentarier miteinander ins Gespräch bringen und so Zeichen setzen für eine versöhnende und solidarische Politik.”
Anregend und vielversprechend sind die gewählten Themen für die Podiumsdiskussionen:
Erasmus – Europa bilden
Judentum in Europa heute – der neue und alte Antisemitismus
Heimat und Migranten
Wort und Brot – die soziale Dimension
Die Abschlussveranstaltung findet am 11. April im «Haus der Europäischen Union» statt. Impulse dazu werden die Botschaften aus den vorausgegangenen Veranstaltungen liefern.
Am 5. Mai wird zu einem Ökumenischen Gebet für Europa in der Wiener Innenstadt eingeladen.
Vielfältig sind die Orte und die Veranstaltungen, die teilnehmenden Bewegungen und die Fachleute, die Themen und das spezifische Engagement. Aber verbindend ist der Wunsch, diese Gelegenheit nicht zu versäumen um zu sagen: MITEINANDER kann es gehen!
Wie kann man sich da nicht wünschen, dass sich viele von «Wien» inspirieren lassen?
Clarita und Edgardo Fandino, weltweit verantwortlich für die Bewegung Equipes Notre-Dame, leben in Bogotá/Kolumbien. Sie haben kürzlich am Treffen des Trägerkreises von Miteinander für Europa in Prag teilgenommen. Wir wollten ihre Erfahrung näher kennenlernen.
1) Was war eure Erfahrung mit dem Trägerkreis von “Miteinander für Europa” in Prag?
Es ist bewegend, direkte Zeugen dieser Initiative zu sein: ausgehend von der Synergie unter vielen Bewegungen will sie hoffnungsvolle Antworten in einer säkularisierten Welt geben, indem sie jede Gemeinschaft einlädt sich nicht abzusondern, sondern Verantwortung für die Gesellschaft und die Welt zu übernehmen und jenen Reichtum, den sie aus dem Evangelium schöpft, zu teilen. Persönlich hätten wir gerne die spezifischen Charismen jeder teilnehmenden Bewegung genauer kennengelernt, aber wir vermuten, dass sie dies einerseits bereits in anderen Zusammenkünften geschehen ist und andererseits, dass die begrenzte Zeit des Programms es nicht ermöglichte. Während der zwei Tage dieser Versammlung war es uns möglich, in freien Momenten Erfahrungen im Dialog mit mehreren Teilnehmern auszutauschen. Wir konnten eine Atmosphäre des Respekts, der Geschwisterlichkeit und der Offenheit feststellen, die auf verschiedene Lebensbereiche erweitert werden sollte, um echte Mitwirkende an Veränderungen zu sein – wie ein “Sauerteig”.
2) Wie seht ihr aus eurer kolumbianischen Perspektive das gegenwärtige Europa?
Wir haben nicht an diesem Treffen von Miteinander für Europa als Kolumbianer teilgenommen, sondern als Verantwortliche der Bewegung Équipes Notre-Dame, die ihren Ursprung in Frankreich hat und heute in 92 Ländern der 5 Kontinente vertreten ist. Als Kolumbianer haben wir große Unterschiede zwischen dem heutigem Europa und Amerika festgestellt und natürlich auch mit unserem heimischen Kolumbien. Europa erlebt derzeit einen viel ausgeprägteren Säkularisierungsprozess als Amerika und ist von Krisen und Desintegrationsströmungen mit separatistischen Tendenzen gezeichnet, die bestehende Institutionen und Regelungen unterminieren. Populistische Tendenzen mit ihren Agitatoren, die polarisieren und Unzufriedenheit säen, sind ein Problem, das bereits globale Dimensionen erreicht hat. Es ist heute mehr denn je unverzichtbar, dass wir als Zeugen von Glaubenswerten aktiver werden, dass wir Initiativen zur Veränderung lancieren, die transzendente Werte vermitteln. Ernesto Sabato, der wunderbare Schriftsteller und aufmerksame Kritiker der Situationen dieser Welt, sagte: “Eine feste Überzeugung ist diese: einzig spirituelle Werte werden die Menschheit vor einer angekündigten Katastrophe retten können.”
3) Ihr seid die weltweiten Verantwortlichen der Bewegung “Équipes Notre-Dame” und habt gerade ein wichtiges internationales Treffen in Paris abgeschlossen. Was sind eure Pläne und Perspektiven für die Zukunft am Ende dieses Treffens?
Wir haben die internationale Verantwortung der Bewegung Équipes Notre-Dame seit letztem Juli in Fatima (Portugal) übernommen, wo wir zusammen mit etwa 9000 Mitarbeitern aus mehr als 70 Ländern, darunter 400 Priester und Bischöfe, 4000 Paare und 200 Witwen/rn eine Begegnungswoche zum Gleichnis vom verlorenen Sohn gelebt haben – das Motto: “Versöhnung, Zeichen der Liebe”. Am Ende dieses Treffens haben wir als Sendungsauftrag die Lebensorientierungen für die Mitglieder der Bewegung in den nächsten 6 Jahren festgelegt: “Habt keine Angst, lasst uns vorangehen”; es ist eine Einladung zum Handeln, indem wir, ausgehend vom Spezifischen unseres Charismas, unsere Berufung und unsere Mission konkretisieren: die eheliche Spiritualität.
Das Treffen, das wir kürzlich in Paris mit dem verantwortlichen internationalen Team durchgeführt haben, war das erste der drei jährlichen Treffen; es war bereits geplant und hatte sich zum Ziel gesetzt, die “Roadmap” zu erstellen, nach der jedes Mitglied der Bewegung das Motto von Fatima in ihrem Leben verwirklichen kann. Aus diesem Grund haben wir viele Strategien und Herausforderungen innerhalb und außerhalb der Bewegung beschrieben, immer im Einklang mit dem Aufruf der Kirche und insbesondere von Papst Franziskus, als Vermittler der Barmherzigkeit an die Peripherien zu gehen. Dieser Aufruf wird vom Papst in seinem jüngsten Apostolischen Schreiben “Gaudete und Exultate” (GE 26) großartig zum Ausdruck gebracht: “Es ist nicht gesund, die Stille zu lieben und die Begegnung mit anderen zu meiden, Ruhe zu wünschen und Aktivität abzulehnen, das Gebet zu suchen und den Dienst zu verachten. Alles kann als Teil der eigenen Existenz in dieser Welt akzeptiert und integriert werden und sich in den Weg der Heiligung einfügen. Wir sind aufgerufen, die Kontemplation auch inmitten des Handelns zu leben, und wir heiligen uns in der verantwortlichen und großherzigen Ausübung der eigenen Sendung.”
Zu den vielfältigen Strategien, für die wir uns einsetzen, gehören unter anderem die kompetente Begleitung von Witwen und Witwern, die Vorbereitung und die Begleitung junger Menschen auf die Ehe und ihre ersten gemeinsamen Jahre, die Arbeit im Blick auf andere Aspekte des partnerschaftlichen Lebens wie die Begleitung von Erwachsenen, Jugendlichen Gehör zu schenken usw..
4) Könnt ihr uns etwas von euch selbst, eurer Familie, eurem Wohnort, eurer Arbeit erzählen …?
Wir sind ein kolumbianisches Ehepaar, seit 32 Jahren verheiratet, zwei Kinder, ein gerade verheirateter 26-jähriger Sohn und eine 24-jährige Tochter, die noch bei uns lebt. Wir wohnen in Bogota, einer Großstadt mit etwa 8 Millionen Einwohnern. Clarita unterrichtet Musik und Katechismus und Edgardo ist berufstätiger Bauingenieur. Wir gehören seit 22 Jahren der Bewegung Équipes Notre-Dame an, in der wir unsere eheliche Spiritualität geformt haben und in der wir uns in unterschiedlichen Funktionen engagiert haben. Kürzlich haben wir die Leitung für das internationale Team für die nächsten 6 Jahren übernommen. Unser Leben teilt sich auf in die Berufstätigkeit von Edgardo, der Einsatz für Équipes Notre-Dame und die häufigen Reisen, die sich aus dieser Verantwortung ergeben. Wir sind überzeugt, dass jede und jeder von uns eine Mission und Aufgabe in dieser Welt hat: Träger der Hoffnung und Zeichen der Liebe Christi zu sein für die Menschheit, Ihm Raum zu geben in unserer Umgebung und in den Peripherien, denen wir uns immer mehr nähern müssen.
Beitrag von Pavel Fischer, Senator, Tschechische Republik, zum Trägerkreis von Miteinander für Europa, Prag 16.11.2018 – “DIE DREI HERAUSFORDERUNGEN”
Liebe Freunde,
Sie sind nach Prag gekommen, um miteinander an dem Thema zu arbeiten: Wie lebt man Miteinander für Europa und wie setzt man sich dafür ein? In was für ein Land sind Sie gekommen? Und wie ist der Zustand Europas heute, hundert Jahre nach dem Ersten Weltkrieg? Sie sind nach Tschechien gekommen, in ein Land, das sich vor hundert Jahren zur Republik erklärte.
Bei den diesjährigen Feierlichkeiten zum hundertjährigen Jubiläum war ich fasziniert von den Ideen, die der Präsident des Verfassungsgerichtshofs in seiner Ansprache geäußert hat. Er leitet diese Institution, deren Aufgabe es ist, sicherzustellen, dass die grundlegendsten Regeln in diesem Land eingehalten werden. Präsident Pavel Rychetský hat eine Diagnose des Zustands unserer heutigen Gesellschaft versucht. Lassen Sie mich seinen Grundgedanken mit eigenen Worten wiedergeben.
Seiner Meinung nach hat die Globalisierung das Gefühl der Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit unter den Menschen verstärkt. Die Menschen haben das Gefühl, dass sie sich in der globalen Welt verlieren. Die Konturen ihrer Identität verwischen sich, und sie versinken in Sorgen und Angst. Ja, die Angst ist zum Nährboden für diejenigen geworden, die ein Feindbild schaffen. Der Feind kann der reichere Nachbar sein, der Einwanderer oder jemand mit einer anderen Hautfarbe. In diesem Land wird manchmal die Europäische Union selbst als der Übeltäter identifiziert.
In ihrer Verzweiflung suchen jetzt die Menschen nach Veränderung und noch besser nach einer Art Messias, weil die traditionellen politischen Parteien sie nicht mehr wirksam vertreten. Ist es überhaupt noch möglich, eine so vergiftete Entwicklung zu stoppen? Und wie kann man ein verdrehtes Wertesystem wiederherstellen?
Der Präsident des Verfassungsgerichtshofs sieht Hoffnung in einem größeren Maß an Emanzipation der Zivilgesellschaft, die ihr Selbstvertrauen wiedererweckt und das Prinzips der bürgerlichen Souveränität wiederherstellt: Bürger, die für sich selbst einstehen; denn politische Vertreter sind dafür da, dem Allgemeinwohl der Nation zu dienen, sonst sollten sie nicht an der Macht sein.
Lassen Sie uns noch einmal auf die Schlüsselbegriffe schauen, die er in seiner Rede verwendet hat: Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit, Identität, Angst, Feind, Allgemeinwohl, Selbstvertrauen, souveräner Bürger.
Wenn wir die besten Aspekte europäischen Denkens anschauen, die auf der Weisheit jüdischer Gelehrter, christlicher Mystiker und rationaler Denker beruhen, können wir eine spirituelle Dimension finden, die jeden dieser Begriffe in ein anderes Licht stellen könnte. So gesehen, hat die Diagnose der heutigen Gesellschaft einen großen Informationswert. Aber ich glaube, dass wir alle diese Phänomene auch in einem hoffnungsvollen Licht sehen können. Und dass wir uns bemühen können, selbst etwas zu tun. Wo also sollen wir anfangen? Was sollten wir zuerst tun, und andererseits was sollte so bleiben, wie es ist?
Lassen Sie uns jetzt einen kurzen Blick auf die drei Herausforderungen werfen, vor denen Europa heute steht.
Die erste Herausforderung: Emotionen
Die Menschen sind so angelegt, dass sie Emotionen empfinden. Und nicht nur die eigenen Emotionen, sondern auch die emotionale Verbindung mit anderen. Aber selbst wenn wir uns immer wieder sagen, dass Menschen rationale und vernünftige Wesen sind, könnten wir doch auch eine ganze Reihe von Beispielen finden, die belegen, wie oft wir uns irrational verhalten. Und das ist eigentlich etwas Gutes.
Um manche Situationen in der europäischen Politik zu verstehen, ist es wichtig zuzugeben, dass Emotionen entscheidend sind. Erinnern wir uns nur an den Kampf zur Lösung der Krise in der Eurozone bei der Suche nach einer Lösung für den Staatshaushalt Griechenlands, als die Wirtschaft in einem kritischen Zustand war.
Wenn wir voraussetzen, dass der Mensch nicht nur ein «homo economicus» ist, das heißt, dass er/sie nicht nur ein Verbraucher oder ein Marktteilnehmer ist, sondern auch Bürger, dem Würde und Freiheit gegeben sind, dann war der Kampf, der zur sogenannten Griechenland-Krise führte, sehr kennzeichnend.
Während die Bürger gezwungen waren, den Gurt enger zu schnallen und buchstäblich kein Geld zum Sparen hatten, gelang es manchen Banken ziemlich gut, ihre Einkünfte während der gesamten Krise zu sichern. Während in Brüssel die Lösung der Krise durch die Anwendung von Sparmaßnahmen durchgeführt wurde, sahen die Bürger in Griechenland dies als ein Reiben von Salz in ihre Wunden. Emotionen stiegen hoch, verärgerte Bürger wandten sich gegen die Regierung, gegen die Europäische Kommission und die Bankiers; auch zum Beispiel gegen Deutschland und sogar gegen die Bundeskanzlerin Angela Merkel selbst.
Diese Atmosphäre intensiver Emotionen war aber etwas, das die Griechen vorwiegend unter sich erlebten. Allein sprachlich war sie für andere nicht zugänglich. Kulturell war sie mit der griechischen Geschichte verbunden, mit Bildern der Geschichte. Und das bedeutete, dass anderen Europäern nicht nur die Mittel fehlten, um die Griechen zu verstehen und mit ihnen zu sympathisieren, sondern auch um ihnen in irgendeiner Weise zu helfen. Rückblickend hätten wir griechischen Kindern einen Urlaub bei uns zuhause anbieten können. Das hätte deren Eltern eine Pause verschafft, und wir hätten für die Zukunft wichtige Beziehungen knüpfen können.
In ähnlicher Weise könnten wir uns an die emotionalen Erfahrungen der Bürger anderer EU-Mitgliedsstaaten erinnern. Es ist, als ob unsere eigenen politischen und sozialen Anstrengungen auf das Gebiet unserer Muttersprache beschränkt bleiben. Es mangelt an starken Medien, es fehlen Vermittler, was bedeutet, dass wir irgendwie mit unseren Emotionen allein gelassen worden sind.
Trotzdem bin ich überzeugt, dass auch der beste Journalist, der geschickteste Diplomat oder der versierteste Politiker nicht vollständig in der Lage wären, die Not, die Angst oder die Hoffnung und Erwartungen zu vermitteln, die wir in unseren Sprachgemeinschaften erleben. Denn es tatsächlich so, dass diejenigen, die eine gemeinsame Muttersprache haben, einander sehr schnell verstehen können.
Als ich jünger war, habe ich Geige gespielt und war viele Jahre in ganz Europa mit einem Orchester unterwegs. Immer wieder habe ich diese Erfahrung als Musiker konkret vor Augen. Auch heute noch muss ich zugeben, dass Musikers fähiger sind zu kommunizieren und eine Botschaft unter unseren Nationen zu vermitteln, als die besten politischen Reden. Tatsächlich arbeiten Emotionen und Kunst Hand in Hand, mit Bildern und Ausdrucksformen, für die wir oft keine Worte finden können.
Und das bedeutet, dass wir in unserer heutigen Welt nicht nur neue Institutionen brauchen, sondern auch Künstler, damit sie uns die Themen vermitteln können, die jetzt vielleicht erst am Aufkommen sind, aber doch schon dringend das Denken der Menschen beschäftigen und sie zum Handeln bewegen. Künstler können der Falle des Übersetzers entgehen. Künstler können mit Inhalten arbeiten, die sonst herausgeschnitten würden, von Zensoren, die Texte überprüfen, ob diese politisch korrekt sind.
Wenn wir auf das traurige Erbe der großen Krise zurückschauen, die 2008 bei den US-Banken begann, sehen wir, dass in vielen Fällen auch die Etats der kulturellen Institutionen beschnitten werden mussten.
Aber weil die Welt, in der wir heute leben, emotional so beunruhigt oder entnervt ist, wäre es wohl an der Zeit, genau das Gegenteil zu tun: die Kunst in den öffentlichen Raum zurückbringen. Der Öffentlichkeit helfen, herauszufinden, was sie gerade mit Hilfe der Künstler erlebt. Und Kindern die Werkzeuge geben, die sie brauchen, um Kunst zu verstehen; denn sonst bleibt jeder von uns ein bisschen allein mit seinen Emotionen, so als wären diese in Flaschen unter Verschluss. Oder es wird jeder ein bisschen allein bleiben, wenn wir über die Atmosphäre in unserem Land als Ganzes reden.
Die zweite Herausforderung: Bürger oder Verbraucher.
Früher oder später müssen wir uns die Frage stellen: Was verstehen wir unter dem Begriff «Mensch»? Meinen wir damit einen Akteur in der Wirtschaft, einen Marktteilnehmer, einen Verbraucher oder einen Bürger?
Schon bei den ersten Anfängen der europäischen Integration lag die Betonung auf der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, und das war sicherlich am effektivsten und vernünftigsten. Damals half es, gemeinschaftliche Prozesse in Gang zu setzen, ohne dass man über Streitpunkte reden musste, oder diese gar durch ein Referendum entscheiden zu müssen. Der Begründer der europäischen Integration entwickelte seine Methoden aus der realen Lebenserfahrung. Der Franzose Jean Monnet, der während des Krieges in London arbeitete, sah dort mit eigenen Augen die Unfähigkeit der Alliierten, die Versorgung unter den Truppen zu koordinieren.
Heute kann diese Betonung der Wirtschaft nicht nur in der EU beobachtet werden, sondern auch in unseren einzelnen Ländern. Und wieder müssen wir uns fragen, was wir unter dem Menschen verstehen. Wenn wir ihn als Verbraucher sehen, dann müsste es unser Ziel sein, die höchste Lebensqualität zu einem erschwinglichen Preis bereitzustellen. Aber wir können den Menschen auch anders sehen: ich meine, als mit Würde begnadetes Individuum, als freies Wesen, als Person mit individueller Verantwortung, die das Bedürfnis hat, Beziehungen zu anderen einzugehen.
Aber eine freie unabhängige Person, die isoliert lebt, kann nicht unser Ideal sein. Denn die Einsamkeit ist eines der Phänomene heutigen Lebens, das unsere Gesellschaft sehr schwächt. Einsamkeit bedeutet Beziehungsarmut. Und davon gibt eine Fülle um uns herum. Wenn ein Mensch aber allein bleibt, kann er das Opfer verschiedenster Raubtiere werden, solche die Informationen und Desinformationen verbreiten oder auch wirtschaftliche Raubtiere, die den Menschen Dinge verkaufen, die sie gar nicht brauchen.
Ein Individuum kann nicht glücklich sein ohne Solidarität und ohne Gemeinschaft und echte Freunde. Auf der Ebene der gesamten Gesellschaft sehen wir dies in solchen Gemeinschaften, die fähig sind zusammenzuleben, die sich im Dialog engagieren und die zusammenkommen, um Problemlösungen zu finden. Auf lokaler Ebene gestalten sie Beziehungen, zu denen Nachbarschaftshilfe, Solidarität und Gegenseitigkeit gehören. Eine solche Gesellschaft ist mit Sicherheit widerstandsfähig. Angesichts einer Bedrohung können Menschen sich selbst und anderen helfen, sie finden ihren Platz in der Gesellschaft und leisten den Bedürftigsten Hilfe.
Aber täuschen wir uns nicht! Wir sind schon oft an solchen Scheidewege gestanden, und dies nicht nur bei Wahlen. Wirtschaft ist ganz sicher von größter Bedeutung für die Verwaltung unserer Länder: Ohne vernünftige und verantwortliche Nationalökonomen wären wir nicht einmal in der Lage, den Staatshaushalt aufzustellen. Aber lasst uns auch danach fragen, wie unsere Entscheidungsträger auch den Einzelnen verstehen. Vielleicht verstehen sie ihn als Verbraucher, das heißt, zur einmaligen Nutzung geeignet, bis zur nächsten Wahl. Aber es könnte auch sein, dass sie den Einzelnen als Partner sehen, als Teamkollegen, als Bürger. Wir wollen unseren Glauben und unser Vertrauen auf diese Art von Politikern setzen.
Die dritte Herausforderung: Gemeinschaft oder Masse.
Die dritte Herausforderung, die wir in der heutigen Gesellschaft beobachten, ist die Ausbreitung der sozialen Netzwerke […]
Beitrag von Jaroslav Šebek, Historiker, Tschechische Republik, zum Trägerkreis von Miteinander für Europa, Prag 16.11.2018 – “Die Kirchen in der Tschechischen Republik und die Herausforderungen der heutigen, turbulenten Zeit”
Die Novemberereignisse 1989 und der Zerfall des kommunistischen Totalitätsregimes in der Tschechoslowakei öffneten nach mehr als vierzig Jahren ein breites Wirkungsfeld für die Tätigkeit der Kirche und der Christen im Allgemeinen und brachten nicht nur große positive Änderungen und neue Möglichkeiten, sondern auch Probleme und damit verbundene Herausforderungen. Die christlichen Kirchen traten in die neue politische Konstellation nach dem „Wunderjahr“ 1989, mit einem großen moralischen Kredit ein. Positive Bewertung ging von der Rolle aus, die die christlichen Kirchen in der Zeit des kommunistischen Regimes gespielt hatten, als sie einerseits stark von einer großen Verfolgung betroffen waren und andererseits eine verständliche Alternative zur herrschenden marxistischen Ideologie darstellten.
Was man nach dem Jahre 1989 im bedeutenden Maße als gelungen bezeichnen kann, ist sicher – außerdem – die Entwicklung der ökumenischen Kontakte. So konnte beispielsweise die Kirchenspaltung überwunden werden in puncto M. Johann Hus, dessen Vermächtnis von Vertretern der Kirche und von Konfessions- und Säkularexperten auf einem 1999 in Rom stattfindenden Symposium objektiv bewertet wurde. Bei diesem Symposium hatte auch der damalige Papst Johannes Paul II. (1920-2005) zum Auftakt des Heiligen Jahres 2000 um Vergebung für die Leiden des Reformators Hus, der 1415 während des Konstanzer Konzils verurteilt und verbrannt worden war, und seiner Anhänger gebeten. Wörtlich sagte Papst damals: „Heute, an der Schwelle zum Großen Jubeljahr, fühle ich mich verpflichtet, mein tiefes Bedauern auszusprechen für den grausamen Tod von M. Johannes Hus und für die daraus folgende Wunde, Quelle von Konflikten und Spaltungen, die dadurch in den Geist und die Herzen des böhmischen Volkes gerissen wurde“.
Ökumenische Aspekte der Reflexion und weiteren Erforschung der Bedeutung von Meister Jan Hus spiegelten sich auch in der gemeinsamen Erklärung des damaligen Prager Erzbischofs Kardinal Miloslav Vlk (1932-2017) und des Synodalsenioren der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder Pavel Smetana (1937-2018) zum Vermächtnis von Jan Hus für die tschechischen Christen vom Anfang Januar 2000 wider. Die römische Konferenz trug zu einer weiteren Auffindung gemeinsamer Sichten der Bedeutung von Hus’ Person sowie zur Annäherung über die Konfessionsgrenzen hinweg bei, was auch eine koordinierte Vorbereitung des sechshundertjährigen Todestages von Jan Hus in dem Jahr 2015 ermöglichte.
Während der relativ kurzen Zeit von einigen Jahrzehnten wandelten sich die Sichtweisen der Bedeutung von Jan Hus, vieles davon verlor an Konfliktpotenzial und Unversöhnlichkeit. Eine Bestätigung dieses Trends war neuestens auch das ökumenische Gedenken an das Vermächtnis von Meister Jan Hus am 15. Juni 2015 im Vatikan. Sein Höhepunkt war zweifellos das Treffen mit Papst Franziskus. Neben Kardinal Miloslav Vlk nahmen daran unter anderem auch die höchsten Vertreter der beiden mitgliederstärksten nichtkatholischen Kirchen teil: Synodalsenior der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder Joel Ruml (1953) und der Patriarch der Tschechoslowakischen Hussitischen Kirche Tomáš Butta (1958). Der Papst erklärte in seiner Ansprache für die tschechische Delegation, dass viele Zwistigkeiten der Vergangenheit im Licht des neuen Kontextes, in dem wir leben, umbewertet werden müssen. Im Licht dieses Herangehens ist es ferner erforderlich, ideologisch unvoreingenommen die Person und die Tätigkeit von Jan Hus zu studieren, der lange Streitgegenstand unter den Christen war und heute zu einem Beweggrund für den Dialog geworden ist. Der Akzent von Franziskus war auch darin bedeutsam, dass er bei dem Treffen die Notwendigkeit einer verbindenden Zusammenarbeit hervorhob und auch ein wesentliches Entgegenkommen gegenüber den nichtkatholischen Kirchen zum Ausdruck brachte.
Im kirchlichen Bereich entstanden nach der politischen Wende jedoch auch die großen Konflikträume. Bald nach der Revolution lebten jedoch die Bilder wieder auf, die den Katholizismus als Feind des Fortschritts und Patriotismus präsentierten, Bilder, wie sie durch die Werke der national-liberalen Literatur im 19. Jahrhundert im tschechischen kollektiven Gedächtnis erhalten blieben und dann in der Zeit der Ersten Republik und selbstverständlich von der kommunistischen Propaganda genährt wurden. Und so kam es schrittweise zu einem rasanten Abfall der Autorität der katholischen Kirche in der tschechischen Öffentlichkeit, der auch heute ein charakteristischer Zug ist. Die Beziehung der Gesellschaft zur katholischen Kirche ist zweifellos eines der trennenden Momente zwischen der Tschechischen Republik und den postkommunistischen Ländern Mitteleuropas, vor allem Polens und Ungarns. Einige Entwicklungstendenzen sind jedoch gemeinsam. Die Staaten und Gesellschaften des ehemaligen Ostblocks sind nämlich mit ähnlichen Problemen und zugleich Anforderungen hinsichtlich des Übergangs zu nichtautoritären Ordnungssystemen konfrontiert, also mit den ökonomischen Auswirkungen ihrer Transformation, mit dem Aufbau einer neuen politischen Kultur und allgemein mit der Schaffung von Raum für einen demokratischen Diskurs.
Ein gemeinsames Merkmal der mitteleuropäischen postkommunistischen Staaten ist auch die sinkende Attraktivität der Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Nach 1989 rief die Mehrheit der Öffentlichkeit nach dem Fall des Eisernen Vorhangs im ehemaligen sozialistischen Block, also auch bei uns, spontan nach einer „Rückkehr nach Europa“. Der verlockende Grund war der Traum vom Wohlstand des Westens, vom gleichen Lebensstandard, den auch wir hinter unseren Grenzen sehen konnten. Die Flüchtlingskrise brachte jedoch für die Zukunft der europäischen Integration einen grundsätzlichen Prüfstein, an dem unterschiedliche Konzepte aufeinanderprallen und wieder steht hier symbolisch Ost gegen West. Die Flüchtlingskrise bedeutet nicht nur wachsende Risiken für Wirtschaft und Sicherheit, sondern öffnet das Thema der Verteidigung der christlichen Werte, und zwar insbesondere im postkommunistischen Osten.
Der tschechische Fall ist jetzt besonders interessant, weil auch im so stark säkularisierten Land begann man von christlichen Wurzeln zu sprechen, freilich vor allem in der ideologisierten Form. Verfechter der Ansicht, dass christliche und europäische Werte verkündet und verbreitet werden müssen, wissen jedoch nicht einmal richtig, oder definieren nicht, welche Werte sie im Sinn haben. Der Glaube in Tschechien erschlaffte und so finden wir unter der Überschrift ‚Unterstützung des Christentums‘ eher eine von der Angst vor dem Einfluss des Islams und anderer Kulturen motivierte Ideologie. Für die Standpunkte der Kirchenkreise zu den Flüchtlingen ist ein Balancieren zwischen Solidarität und der deklarierten Angst vor den kulturellen Auswirkungen typisch. Eine der allgemeineren Ursachen der Krisenerscheinungen ist das Fehlen klarer ideeller Visionen. Die heutige Europäische Union verlässt sich nicht mehr so sehr auf die Überzeugungskraft von Ideen, sondern rein auf technokratische Lösungen. Die geringe Autorität der Europäischen Union wird jedoch oft zu Recht mit der Unglaubwürdigkeit ihrer führenden Vertreter und deren Unfähigkeit zu einer starken ideellen Reflexion der Probleme in Verbindung gebracht. In der tschechischen Gesellschaft bestehen jedoch auch weitere Herausforderungen, die ich auch als christliche Antworten auf die Zeichen der Zeit bezeichnen würde.
Während der letzten Generation erhielt der „flüssige Zorn“ des Teiles der Öffentlichkeit und die Abneigung gegen die gesellschaftlichen Eliten ein neues Medium: die sozialen Netze im Internet. Dort können Frustrierte und Aufgebrachte anonym all ihre Bosheit hinausschreien und sich gegenseitig in ihrem negativistischen Weltbild bestärken. In diesen trüben Gewässern fischen nicht nur die tschechischen Populisten ihre Anhänger und ihre Sternstunde wurde die Einwanderungskrise der letzten Jahre. Den Populisten gelang es sehr oft, die verständlichen Befürchtungen in eine Hysterie der Angst und des Hasses zu verwandeln und sich als Retter aufzuspielen. Eines der Probleme der heutigen Zeit ist auch die Kommunikationsverkapselung aufgrund der Möglichkeiten der sozialen Netze, was tatsächlich miteinander nicht kommunizierende Filterblasen hervorruft, Gemeinschaften, die auch einen unsinnigen oder konspirativen Blick auf die Welt teilen, die sich leicht durch eine geschickt verbreitete, als Wahrheit ausgegebene Propaganda manipulieren lassen. Während in der Zeit des Kommunismus bei uns eine Informationswüste herrschte, bewegen wir uns heute in einem Informationsdschungel. Das Ergebnis ist jedoch das gleiche: Orientierungsverlust und größere Anfälligkeit für Manipulationen sowie Misstrauen gegenüber jedem und allem. Die Menschen vereinigen sich außerdem virtuell zu kleinen Gemeinschaften mit derselben geteilten Weltsicht, kommunizieren jedoch nicht mit den anderen Gruppen und leben – übertrieben ausgedrückt – in Parallelwelten.
In der bestehenden Situation, in der wir um uns herum einen beschleunigten Zerfall der bisherigen Sicherheiten, der zwischenmenschlichen Beziehungen, durch die neuen Technologien ein sich Verschließen in „Kommunikationsghettos“ sehen, begleitet durch ein wachsendes Angstgefühl und den aggressiveren Ton der Diskussionen, die dann der Katalysator weiterer trennender Meinungen in der Gesellschaft ist. In dieser Situation ist es fast existenziell notwendig, nach gemeinsamen Interessen zu suchen, die die Mitglieder gemeinsam artikulieren würden, allerdings mit Betonung auf den gesamteuropäischen Kontext.
Diese Tatsache ist gerade heute dort wichtig, wo es scheint, dass das ganze Projekt der europäischen Integrierung und die Schaffung formativer Vorbilder auf der Basis der verbindenden Werten in Gefahr ist. Vor allem die Auswirkungen der Migrations- und damit verbundene Kulturkrise in der Orientierung dann bringen zum Erfolg verschiedene populistisch-nationale Bewegungen in der Mehrheit des „alten Kontinents“.
Wie ich vermute, hängt die Kraft des Populismus mit dem Mangel an Glauben in unserer Gesellschaft zusammen. Mit Glaube meine ich jedoch etwas weit Tieferes als nur die Zustimmung zu Dogmen oder den Besuch von Gottesdiensten. Dabei denke ich an den Glauben als Lebensorientierung. Lebendiger Glaube ist Therapie gegen die Angst. Wo es wenig Glaube gibt, da ist viel Angst, und wo viel Angst ist, da ist viel geistliche Blindheit und Aggressivität, und wo es viel geistliche Blindheit und Aggressivität gibt, da siegen die Demagogen, die diese Angst potenzieren, die Verblendung missbrauchen und für das sich Entladen des „flüssigen Zorns“ nach geeigneten Zielen suchen – einst waren das die Juden, die Deutschen, dann unter dem kommunistischen Regime die Bauern und Gewerbetreibenden, heute sind es die Flüchtlinge und Muslime – und wenn der Populist die Angst und das Gefühl des Bedrohtseins gehörig geschürt hat, bietet er sich als Retter an. Deshalb ist es doch interessant, wie schwer in unserer gespaltenen tschechischen Gesellschaft auch die katholische Kirche selbst und ihre Repräsentanten nach Orientierung suchen. Die Kirchenrepräsentanten vermögen auch kein klares Wort zu unserer Mitgliedschaft in der EU zu sagen. Vor allem kritisieren sie die sog. neomarxistischen Tendenzen im Genderbereich und die kulturelle Unausgeprägtheit Europas. Deshalb schließen sich auch einige Bischöfe jenen Politikern an, die sich, wie ich bereits sagte, verbal zu den christlichen Werten bekennen, sie jedoch faktisch nur als Teil ihrer ideologischen Ausstattung benutzen, dass also das Christentum nur als Ideologie benutzt wird und kein Teil der geistlichen Identität ist. Hierin unterscheiden sich viele kirchliche Würdenträger in Tschechien von Papst Franziskus, und so scheiden sich an der Bewertung des derzeitigen Kirchenoberhauptes die Ansichten der Gläubigen. Im Vergleich zu seinen Vorgängern repräsentiert Franziskus eine Wende darin, dass seine Worte glaubwürdig wirken und ein Zeichen seiner allgemeinen Offenheit sind. Seine Gesten an der Öffentlichkeit – Fußwaschung an Flüchtlingen, Verzicht auf pompösen Prunk und Luxus – zeugen davon, dass er das Bild des Papsttums ändern und dem „gewöhnlichen Menschen“ näher sein will. Dies vertieft selbstverständlich noch die Polarisierung seiner Wahrnehmung in den Reihen der Kirche. Eine weitaus durchdachtere Sichtweise der heutigen Probleme der tschechischen Gesellschaft finden wir eher in der evangelischen als in der katholischen Umgebung. Dies belegt die jüngste Debatte zur eventuellen Aufnahme von syrischen Waisen, bei der Kardinal Duka im Unterschied zum evangelischen Spitzenvertreter vor allem der politischen Entscheidungslinie folgte.
Im Ringen mit Populismus, Angst und Vorurteilen sowie mit der Arroganz einer amoralischen Macht brauchen wir aber den Glauben, der die ethischen und allgemein menschlichen Werte reflektiert. Das Herz des Glaubens ist das, was das Evangelium Metanoia nennt – die Umkehr von Oberflächlichkeit, vom Verlorensein inmitten der lärmenden Megafone der Propaganda zu Tiefe, zum Inneren, zum Tempel des Gewissens, das mit einem rationellen Blick auf die Dinge kombiniert sein sollte. In der Atmosphäre der gesellschaftlichen Unruhe sollten die christlichen Kirchen in der engen Zusammenarbeit mit der bürgerlichen Gesellschaft quer durch Europa eine wichtige Rolle bei der Verbesserung der Lage spielen.